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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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diesem Augenblick fliehen können, ohne daß es auch nur einer der Männer bemerkt hätte.
    Aber ich versuchte es nicht. Statt dessen drehte ich mich herum und ging langsam auf die gewaltige Raubkatze zu.
    Der Jaguar fauchte. Seine Reißzähne blitzten wie gekrümm-te weiße Messer, und von seinen Lefzen tropfte Blut. Seine furchtbaren Krallen gruben sich dicht neben dem Helm des verletzten Wikingers in den Boden. Irgendwo hinter meinem Rücken schrie jemand, dann hörte ich Schritte, aber der Mann, der mich verfolgte, blieb dicht hinter mir stehen, als die Raubkatze ein neuerliches, drohendes Fauchen hören ließ.
    »Bleib stehen!« brüllte Lasse. »Was tust du? Er bringt dich um!«
    Ich hörte kaum hin. Mein Blick bohrte sich in den der Raubkatze. Ich spürte die Wildheit des Tieres, den scharfen Raubtiergestank, den es verströmte, und die Wut auf alles Lebende, die in diesem gewaltigen schwarzen Tier brodelte.
    Aber ich spürte auch, daß es … mehr war als eine gewöhnliche Raubkatze. Ich hatte niemals von einem schwarzen Jaguar gehört, und an der Überraschung und Furcht auf den Zügen der Indios hatte ich erkannt, daß auch für sie dieser Anblick fremd sein mußte.
    Langsam näherte ich mich dem Jaguar, blieb zwei Schritte vor ihm stehen und hob die Hände.
    Die Raubkatze fauchte. Die geschlitzten Pupillen in ihren Augen loderten vor Haß. Aber sie griff nicht an.
    Ich drängte die Furcht mit aller Macht zurück, atmete hörbar ein und trat einen weiteren Schritt auf das gewaltige schwarze Tier zu. Die Stimmen hinter mir waren verstummt, und ich konnte direkt fühlen, wie die Männer mich und die Raubkatze mit gebannten Blicken musterten.
    Ich machte einen weiteren Schritt. Ich spürte, wie sich in meiner Seele etwas regte, etwas gleichermaßen Fremdes wie Vertrautes, ein Teil jener uralten, finsteren Macht, die ich geerbt hatte und die mich zum Magier machte, und dann …
    Es war nicht so, daß ich die Gedanken des Tieres las, aber ich fühlte seine Wut, fühlte seinen Haß wie einen Strom dunkler, brodelnder Energie zu mir herüberfließen. Und ich wußte, daß ich keine Angst vor ihm zu haben brauchte.
    Mein Geist und der des Tieres wurden eins. Es war das Erbe meines Vaters, das in mir erwachte, jener Teil meines Bewußtseins, der mich ein wenig empfänglicher für die Welt hinter der Realität machte, als es die meisten anderen sind. Ich spürte den Haß, die blinde, alles vernichtende Wut der Bestie, und ich besänftigte sie.
    Langsam, widerwillig und so, als würde er von einer stärkeren, unsichtbaren Macht dazu gezwungen, wich der gewaltige Jaguar von seinem Opfer zurück. Die winzigen Ohren legten sich flach an den Schädel. Sein Schwanz peitschte. Aber sein Fauchen klang jetzt eindeutig furchtsam.
    Ich atmete noch einmal tief ein und trat mit einem entschlossenen Schritt direkt neben das Tier. Der Jaguar hob die Vorder-tatze, führte den Hieb aber nicht mehr aus. Seine Augen wurden schmal, die Pupillen zogen sich zu winzigen Punkten zusammen, und statt des Fauchens drang jetzt ein tiefes, rhythmisches Knurren aus seiner Brust. Der Blick seiner bernsteingelben Katzenaugen focht ein stummes Duell mit dem meinen.
    Langsam legte ich die Hand zwischen die Ohren des Tieres und konzentrierte mich. Ich versuchte nicht, den Willen des Jaguars zu brechen. Das war unmöglich. Er war eine Katze, und es ist noch nie jemandem gelungen, eine Katze ihrer Unabhängigkeit zu berauben. Aber es gelang mir, seinen Zorn zu dämpfen. Langsam, unendlich langsam und vorsichtig drang ich in seinen überraschend klaren tierischen Intellekt ein und versuchte, die Mischung aus Haß und Furcht in seinem Inneren zu besänftigen. Und ich spürte, daß es mir gelang.
    Minuten, vielleicht eine halbe Stunde lang, stand ich reglos da und blickte den riesigen Jaguar an, und irgendwann wurde aus seinem drohenden Knurren ein tiefes, ruhiges Summen, ein Laut wie das Schnurren einer zufriedenen Katze, aber dunkler, mächtiger.
    Als ich mich umwandte und auf die Lichtung zurücksah, sanken die Olmeken einer nach dem anderen auf die Knie und beugten demütig das Haupt.

    »Er lebt«, sagte Lasse erleichtert. »Er ist verletzt, aber er wird es überstehen. Du hast ihn gerettet.«
    Der Wikinger, den der Jaguar angefallen hatte, lag mit geschlossenen Augen vor uns. Er hatte das Bewußtsein verloren, aber sein Pulsschlag hatte sich beruhigt, und auch die Wunden hatten aufgehört zu bluten. Sie waren weniger gefährlich, als es auf den ersten

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