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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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aber Erickson und seinem Heer wurden sie zum Verhängnis. Es war eine Todesfalle. Nur Erickson selbst und eine Handvoll seiner Männer konnten entkommen und verschwanden im Busch. Aber ein halbes Jahr später kam er zurück, und er war nicht mehr allein.« Plötzlich wurde seine Stimme hart, und ich spürte, wie eine Welle glühenden Hasses in ihm emporstieg. »Oh nein«, sagte er. »Quetzalcoatl selbst war bei ihm, und mit ihm …«
    »Quetzalcoatl?« Ich runzelte die Stirn. »Du … du meinst den alten Gott der …«
    »Die gefiederte Schlange«, unterbrach mich Lasse. »Ja. Ich weiß nicht, ob er alt ist, aber er ist auf jeden Fall schrecklich.
    Die Indios sanken vor ihm auf die Knie und verehrten ihn als Gott, und niemand wagte es, an Widerstand auch nur zu denken.«
    »Und ihr?«
    Lasse seufzte. »Wir haben uns recht und schlecht durchge-schlagen«, sagte er.
    »Nach einem halben Jahr im Busch fanden wir Unterschlupf bei einem kleinen Stamm weiter oben im Norden. Wir hörten erst wieder von Erickson, als er bereits seine Schreckensherr-schaft errichtet hatte. Seitdem kämpfen wir.«
    »Seit sechs Jahren?«
    Lasse nickte. »Die meiste Zeit waren wir auf der Flucht«, sagte er. »Leif Erickson haßt uns. Er weiß, daß wir die einzigen sind, die den Olmeken sagen können, daß er kein Gott ist, sondern nur ein Verräter und Mörder. Er wird alles tun, um uns zu vernichten.«
    »Quetzalcoatl«, murmelte ich.

    »Du meinst, er … er wäre wirklich und leibhaftig erschienen?«
    »Wäre?« lachte Lasse. »Er ist es noch, Welpe. Erickson und dieses verfluchte Monstrum terrorisieren das Land seit sechs Jahren. Setchatuatuan und seine Leute sind die einzigen, die es überhaupt wagen, Widerstand zu leisten.«
    Ich sah unauffällig zu dem jungen Olmeken hinüber. »Glaubt er nicht an Quetzalcoatl?« fragte ich.
    »Doch«, antwortete Lasse. »Aber Erickson hat seinen Stamm ausgelöscht.« Er lachte, doch es klang bitter. »Wenn du wirklich gekommen bist, um Hellmark zu rächen«, sagte er leise, »dann wirst du gegen einen leibhaftigen Gott kämpfen müssen.« Lasse zuckte mit den Achseln und spielte nervös mit seinem Schwert. »Vielleicht ist er auch kein Gott, sondern nur ein Ungeheuer, aber das bleibt sich gleich. Die Olmeken glauben, daß es Quetzalcoatl selbst ist. Rechne nicht auf Hilfe von ihnen.«
    »Und Setchatuatuan?«
    Lasse zögerte einen Moment. »Er ist ein tapferer Mann«, sagte er. »Und er haßt Leif Erickson so sehr wie wir, vielleicht mehr. Aber ich weiß nicht, was er tun wird, wenn er Quetzalcoatl selbst gegenübersteht.«
    Ich sah den Wikinger nachdenklich an. »Du glaubst nicht, daß er ein Gott ist«, vermutete ich.
    »Quetzalcoatl?« Lasse überlegte kurz. »Ich … weiß es nicht«, gestand er schließlich. »Ich habe niemals ein Wesen wie ihn gesehen, aber die Welt ist groß. Und schließlich«, fügte er mit einem fast verlegenen Lächeln hinzu, »habe ich auch noch niemals einen Gott gesehen.«
    »Du hast ihn gesehen?« entfuhr es mir. Lasse nickte. »Zweimal«, sagte er.
    »Wie sieht er aus?« fragte ich. »Beschreibe ihn mir.«
    »Er ähnelt nichts, was ich jemals zuvor gesehen hätte«, sagte Lasse. »Er ist gewaltig. Seine Flügel sind so groß wie die Segel eines Schiffes. Er fliegt so schnell wie der Wind, und er tötet alles, was ihm in den Weg kommt. Erickson ist der einzige, der ihn beherrscht.«
    »Aber was ist er?« fragte ich noch einmal. »Ein Vogel, ein
    …«
    »Ein Drache«, sagte Lasse. »Wäre ich ihm zu Hause begegnet, hätte ich ihn einen Drachen genannt. Hier ist er ein Gott.«
    Lasse sprach nicht weiter, und ich spürte, daß wir an einem Punkt angelangt waren, an dem es keinen Sinn hatte, das Gespräch fortzuführen. Aber ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich Leif Erickson und seiner gefiederten Schlange begegnen würde, vielleicht rascher, als ich ahnte. Und ganz bestimmt rascher, als mir lieb war.

    »Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte Setchatuatuan. Er versuchte seine Worte durch ein aufmunterndes Lächeln zu bekräftigen, aber die Erschöpfung ließ seine Stimme zittern und der Blick, mit dem er mich maß, drückte eher Furcht als Zuversicht aus.
    Der junge Olmekenhäuptling war während der letzten Stunden kaum von meiner Seite gewichen; ebensowenig wie die anderen Krieger. Die Olmeken hatten mich in die Mitte genommen, und auch wenn ich genau wußte, daß diese Maßnahme jetzt nur noch meinem Schutz diente, fühlte ich mich mehr denn je wie ein Gefangener.

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