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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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mich auf, stieg den Hügel hinab und ging quer über die Lichtung auf den toten Drachen zu. Die Indios machten mir respektvoll Platz, aber meine Schritte wurden immer langsamer, je mehr ich mich der Bestie näherte.
    Selbst im Tode bot das Ungeheuer einen wahrhaft ehrfurcht-gebietenden Anblick: Es war gigantisch, ein tonnenschweres Monster von unvorstellbaren Körperausmaßen. Der Schädel sah aus wie eine mißlungene Kreuzung zwischen Saurier und Fisch und noch etwas anderem, unsagbar Abstoßendem. Die Bäume, zwischen die es gestürzt und die es zum Teil regelrecht aufgespießt hatten, wirkten wie geknickte Streichhölzer unter seinem Gigantenleib, und als ich die titanischen Krallen sah, schauderte es mich noch einmal, allein bei dem Gedanken, daß eine dieser Pfoten sich noch vor wenigen Minuten um mich geschlossen hatte.
    Zehn Schritte vor dem toten Ungeheuer hielt ich an. Ganz plötzlich hatte ich den absurden Gedanken, daß es jäh die Augen aufschlagen und zu neuem, fürchterlichem Leben erwachen könnte, wenn ich den Fehler beging, ihm zu nahe zu kommen. Absurd, ich weiß, aber angesichts dieses Monsters erschien jede menschliche Logik ohnehin lächerlich.

    Es glich nichts, was ich jemals gesehen hätte, und ich war auch ziemlich sicher, daß kein Paläontologe oder irgendein anderer Wissenschaftler jemals etwas Ähnliches ausgegraben oder sich auch nur erdacht hatte. Dies war kein Geschöpf aus der Urzeit der Erde, wie ich anfangs vermutet hatte, sondern etwas vollkommen Fremdes. Kein Wesen aus einer anderen Zeit, sondern etwas, das nicht in diese Welt gehörte, nicht hier geboren war und nicht hier sein durfte.
    Ich hörte ein Geräusch hinter mir und wußte, daß es Lasse Rotbart war, ohne mich extra herumdrehen zu müssen.
    »Bei Odin«, stammelte der Wikinger. »Was für ein Koloß!
    Und du willst die besiegen, die ein solches Monstrum geschaffen haben?« Seine Stimme schwankte. Es war seltsam, aber der Anblick des toten Drachen gab mir plötzlich Mut, statt mich zu ängstigen. Ich nickte. »Mit eurer Hilfe, ja. Ich weiß noch nicht, wie, aber wir werden es schaffen.«
    »Du weißt nicht, was du redest, Bursche«, sagte Lasse.
    »Aztlan ist eine Stadt der Zauberer. Niemand kann einen Zauberer besiegen.«
    Ich schwieg einen Moment, drehte mich dann langsam zu ihm um und deutete mit der Hand auf den reglosen Körper des Drachen.
    »Wir haben einen Gott besiegt, Lasse Rotbart«, sagte ich betont. »Meinst du nicht, daß wir auch einen Zauberer schlagen könnten?«

    Es wurde Nacht, bis wir in die Höhlen von Tucan zurückkehrten. Der Kampf zwischen Erickson und unseren Kriegern hatte nicht lange gedauert, aber ich hatte ja am eigenen Leibe verspürt, mit welcher Verbissenheit und Wut er geführt worden war, und Quetzalcoatls Toben hatte ein übriges getan, die Zahl der Verwundeten und Toten erschreckend hoch ansteigen zu lassen. Bis spät in den Nachmittag hinein waren wir damit beschäftigt, die Verletzten zu versorgen und die Toten zu bestatten.
    Trotzdem hatte sich unsere Zahl fast verfünffacht, als wir endlich aufbrachen. Nur sehr wenige der Krieger, die Erickson mitgebracht hatte, waren wirklich geflohen. Die meisten derer, die im Dschungel verschwunden waren, waren nach und nach wieder aufgetaucht und hatten sich uns angeschlossen. Wir waren an die Hundert, als wir mit dem letzten Licht des Tages die Höhlen wieder erreichten, und plötzlich kam mir der große Felsendom tief unter der Erde gar nicht mehr riesig und kalt vor, sondern geradezu beengt; Dutzende von Fackeln brannten, und es wurde bald so warm, daß es fast unangenehm war.
    Ich bat Setchatuatuan darum, Leif Ericksons Bewachung persönlich übernehmen zu dürfen, und zu meiner Verblüffung willigte er ein, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
    Allerdings bestand er darauf, daß ich mich mit Lasse Rotbart und seinen Wikinger-Kriegern in diese Aufgabe teilte, eine Entscheidung, die klüger war, als ich im ersten Moment begriff: Lasses Männer haßten Erickson mindestens ebensosehr wie die Olmeken, aber sie fürchteten ihn nicht, denn anders als Setchatuatuans Krieger sahen sie in dem Wikingerfürsten nicht einen Dämonen oder Zauberer, sondern nur das, was er war, einer von ihnen, der seine Kameraden verraten und sich zum Herrscher über ein ganzen Volk aufgeschwungen hatte.
    Aber ich ahnte bereits, daß das nur die halbe Wahrheit war.
    Erickson war längst nicht mehr bloß der machtgierige Verräter, der er einst gewesen sein mochte;

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