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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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irgendwann zwischen dem Moment, in dem er dieses Land betrat, und dem Zeitpunkt, da er sich zu seinem Herrscher aufgeschwungen hatte, war etwas mit ihm geschehen. Und je mehr ich über die Ereignisse des vergangenen Tages nachdachte, desto überzeugter war ich, daß Leif Erickson ganz und gar nicht Herrscher, sondern nicht viel mehr als eine Marionette war, an deren Fäden andere, weit finsterere Mächte zogen.
    Obwohl ich darauf brannte, mit Erickson zu sprechen, kam ich zumindest vorerst nicht dazu. Er war nicht schwer verwundet, aber die vielen kleinen Verletzungen hatten ihn doch sehr geschwächt, und er befand sich in einem Zustand, den man in meiner Zeit wohl mit dem Wort Schock beschrieben hätte. Ich versuchte ein paarmal, ihn anzusprechen, aber er reagierte nicht, und obwohl er mich ansah, schien sein Blick doch geradewegs durch mich hindurchzugehen.
    Schließlich gab ich es auf und hockte mich mit angezogenen Beinen neben ihn. Erschöpft lehnte ich den Kopf gegen den feuchtkalten Fels hinter mir und schloß die Augen. Aber der Schlaf, auf den ich wartete, wollte nicht kommen; ich war zwar körperlich erschöpft, aber meine Gedanken befanden sich in Aufruhr. Alles war viel komplizierter und viel, viel erschrek-kender, als ich bisher geglaubt hatte.
    Ein leises Räuspern riß mich aus meinen düsteren Überlegungen. Ich sah auf und blickte in Lasse Rotbarts Gesicht. Der Wikinger, der Erickson bisher bewacht hatte, war gegangen, und Lasse hatte seinen Platz eingenommen, ohne daß ich ihn kommen gehört hätte. Es war erstaunlich, wie lautlos und elegant sich dieser vierschrötige Mann zu bewegen vermochte, wenn es sein mußte.
    Lasse Rotbart sah mich fast eine Minute lang wortlos an, ehe er sich ebenfalls setzte und die Arme vor der Brust verschränk-te. »Du siehst müde aus, Robert aus Britannien«, sagte er, blickte dabei aber Leif Erickson an.
    Ich antwortete nicht, aber Lasse schien das auch gar nicht erwartet zu haben, denn er fuhr fast unmittelbar und in verän-dertem Tonfall fort: »Du hättest mich nicht zurückhalten dürfen, Zauberer.«
    Ich sah auf. »Wovon?« fragte ich, obwohl ich die Antwort ganz genau kannte.

    »Ich hätte ihn töten sollen«, sagte Lasse. »Leif Erickson lebt.
    Es wird nicht vorbei sein, solange er lebt.« Er seufzte tief und sah mich durchdringend an. »Warum hast du mich gehindert?«
    fragte er. »Du hast ihm keinen Gefallen getan, wenn es das ist, was du glaubst.«
    »Indem ich ihm das Leben gerettet habe?«
    Lasse Rotbart schüttelte den Kopf. »Er wird so oder so sterben«, sagte er, fast sanft. »Aber ein Tod von meiner Hand wäre ein ehrenvoller Tod gewesen, ein Tod auf dem Schlachtfeld, wie er einem Wikinger zukommt. Was die Olmeken mit ihm tun werden, wird schlimmer sein.«
    Ich erschrak. »Du glaubst, daß sie ihn foltern?«
    Lasse überlegte einen Moment, dann verneinte er. »Setchatuatuan ist kein Barbar«, sagte er. »Aber ich rede nicht von Folter und Schmerzen, Robert aus Britannien. Leif Erickson fürchtet sie nicht, so wenig wie ich oder einer meiner Männer.
    Aber der Tod auf dem Richtblock ist eine Schande. Du hast ihm seinen Platz in Walhalla genommen.«
    Ich wollte ganz automatisch widersprechen, aber dann ließ ich es bleiben. Ich war wirklich nicht in der Verfassung, philosophische Gespräche mit Lasse Rotbart zu führen, und vielleicht hatte er ja sogar recht, von seinem Standpunkt aus.
    Dies hier war nicht einfach ein anderes Land: Es war eine vollkommen fremde Welt, in der die Regeln und Gesetze meiner Zeit nichts galten.
    Lasses Blick tastete erneut über Ericksons Gesicht. »Du hättest mich nicht zurückhalten sollen«, sagte er noch einmal.
    »Ich kann kein menschliches Leben zerstören«, murmelte ich.
    »Aber warum nicht?« fragte Lasse kopfschüttelnd.
    Ich zögerte.
    »In der Welt, aus der ich komme, sieht man nicht einfach zu, wenn ein Mensch getötet wird«, antwortete ich schließlich, aber es klang selbst in meinen Ohren lahm und nach dem, was es war: eine Ausrede.
    »Auch nicht, wenn es ein Feind ist?«
    »Auch dann nicht«, sagte ich.
    Lasse sah mich kopfschüttelnd an. »Wer bist du wirklich, Robert?« fragte er, nicht zum erstenmal. »Die Welt, aus der du kommst … was ist das für eine Welt? Asgard?«
    »Nein. Aber eine Welt, die dir wahrscheinlich noch fremder vorkommen würde, könntest du sie sehen.«
    Lasse lächelte. »Warum zeigst du sie mir nicht?« fragte er.
    Ich sah ihn erstaunt an, und er machte eine bekräftigende

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