Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
rollt gleichsam über die Baumwipfel und schwebt anschließend auf die kleine Siedlung herab. In den Fenstern fast aller Häuser in der Straße brennt Licht, aber das Haus mit der Nummer 23 ist unheilverkündend dunkel.
»Es gibt sicher eine Erklärung dafür«, erläutert Joona den beiden Beamten, »aber keiner der Eltern ist in den letzten Monaten arbeiten gegangen und die Kinder sind krank gemeldet.«
Die niedrige Hecke auf der Straßenseite ist schneebedeckt, und der grüne Plastikbriefkasten neben dem Verteilerkasten quillt vor Post und Reklame über.
»Ist das Jugendamt eingeschaltet worden?«, fragt Marie ernst.
»Sie waren hier, sagen aber, die Familie sei verreist gewesen«, antwortet Joona. »Wir klingeln, aber es dürfte darauf hinauslaufen, dass wir zu den Nachbarn gehen und sie befragen.«
»Besteht der Verdacht einer Straftat?«, will Eliot wissen und betrachtet den glatten Schnee in der Garageneinfahrt.
Joona muss an Samuel Mendel denken. Seine ganze Familie verschwand. Der Sandmann holte sie sich, wie Jurek Walter es prophezeit hatte. Gleichzeitig weiß er, dass die Dinge hier anders liegen. Susanne Hjälm hat ihre Kinder krankgemeldet und selbst das Attest unterzeichnet, das der Schule geschickt wurde.
110
Die beiden Kollegen begleiten Joona zum Haus. Unter ihren Stiefeln knirscht der Schnee.
Hier ist seit Wochen niemand mehr gegangen.
Neben dem Sandkasten ragt ein Stück von einem Gartenschlauch aus dem Schnee.
Sie steigen die Eingangstreppe hinauf und klingeln, warten kurz und klingeln dann noch einmal.
Sie lauschen ins Haus hinein. Aus ihren Mündern steigen weiße Atemwolken auf. Die Treppe unter ihnen knarrt.
Joona klingelt noch einmal.
Sein ungutes Gefühl will einfach nicht verschwinden, aber er behält seine Befürchtungen für sich. Es gibt keinen Grund, die Kollegen nervös zu machen.
»Was tun wir jetzt?«, fragt Eliot gedämpft.
Joona stützt sich mit dem Knie auf eine kleine Bank, lehnt sich zur Seite und schaut durch das schmale Flurfenster ins Haus. Die matten Glasprismen der Wandlampen hängen regungslos. Er richtet den Blick auf den Boden. Die Wollmäuse an der Wand liegen still. Er denkt schon, dass es wohl keinen Luftzug in dem Haus zu geben scheint, als eine Wollmaus unter die Kommode gleitet. Joona beugt sich näher ans Glas, schirmt das Licht in seinem Rücken mit den Händen ab und sieht eine dunkle Gestalt im Flur.
Einen Menschen mit erhobenen Händen.
Es dauert nur eine Sekunde, bis Joona erkennt, dass er sich selbst im Flurspiegel sieht, aber das Adrenalin jagt bereits durch seinen Körper.
Er sieht sich selbst als Silhouette in dem schmalen Fenster des Flurs, Regenschirme in einem Ständer, die Innenseite der Tür, die vorgelegte Sicherheitskette und den roten Fußboden des Flurs.
Weder Schuhe noch Mäntel oder Jacken sind zu sehen.
Joona klopft ans Fenster, aber es geschieht nichts.
Die Kristalle an der Wandlampe hängen regungslos, im Haus ist alles still.
»Okay, dann werden wir wohl die direkten Nachbarn befragen müssen«, sagt er.
Doch statt zur Straße zurückzukehren, geht er um das Haus herum. Die Kollegen bleiben auf der Auffahrt stehen und sehen sich fragend an.
Joona stapft an einem verschneiten Trampolin vorbei und bleibt dann stehen. Die Hufspuren eines Rehs führen über mehrere Grundstücke. Aus den Fenstern des Nachbarhauses fällt gelbes Licht ins Freie und liegt wie eine goldene Fläche auf der Schneedecke.
In diesem Moment herrscht vollkommene Stille.
Hinter dem Grundstück beginnt der dunkle Wald. Nadeln und Zapfen sind in den spärlicher liegenden Schnee unter den Bäumen gefallen.
»Wollten wir nicht die Nachbarn befragen?«, erkundigt sich Eliot.
»Ich komme gleich«, antwortet Joona leise.
»Was?«
»Was hat er gesagt?«
»Wartet noch kurz …«
Joona marschiert weiter durch den Schnee, und seine Füße und Knöchel werden kalt. Ein Futterautomat für Singvögel schaukelt knarrend vor dem dunklen Küchenfenster.
Er geht an der Giebelseite entlang und denkt, dass irgendetwas nicht stimmt.
Schnee ist gegen die Fassade geweht worden.
Glitzernde Eiszapfen hängen vom Blech unter dem Fenster herab, das dem Wald am nächsten ist.
Aber warum nur dort, fragt er sich.
Er nähert sich dem Fenster und sieht, dass die Außenbeleuchtung des Nachbarn sich in der Scheibe spiegelt.
Es handelt sich um vier lange und eine Reihe kleinerer Eiszapfen.
Er hat das Fenster fast erreicht, als er sieht, dass sich an einem
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