Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
getan.«
Sie bleibt mit fragender Miene stehen und streicht sich über den Mund.
»Ich wollte ihm eine Spritze Zypadhera geben. Er hatte ein Beruhigungsmittel bekommen und lag auf dem Bett … er konnte sich nicht mehr bewegen. Sven Hoffman öffnete die Tür, ich ging hinein und gab ihm die Spritze in den Po … Als ich das Pflaster auf die Einstichstelle klebte, sagte ich ihm nur, ich sei fertig mit seinen Briefen und dass ich nicht vorhätte, seinen Brief abzuschicken, ich sagte ihm nicht, dass ich ihn schon verbrannt hatte, ich sagte nur …«
Sie verstummt und versucht, die Fassung zu bewahren, um weitersprechen zu können, hält sich kurz die Hand vor den Mund und lässt sie dann herabsinken:
»Jurek öffnete die Augen, sah mich an und sprach Russisch … Ich habe keine Ahnung, woher er wusste, dass ich ihn verstand, ich habe ihm nie erzählt, dass ich einmal in Sankt Petersburg gewohnt habe.«
Sie verstummt und schüttelt den Kopf.
»Was hat er gesagt?«
»Er schwor mir, Ellen und die kleine Anja aufzuschlitzen … und mich anschließend wählen zu lassen, wer von den beiden verbluten solle«, sagt sie und lächelt breit, um nicht zusammenzubrechen. »Die Patienten sagen manchmal furchtbare Dinge, man muss ein dickes Fell haben und sich eine Menge Drohungen anhören, aber bei Jurek Walter ist das etwas anderes.«
»Sind Sie sicher, dass er Russisch gesprochen hat und nicht Kasachisch?«
»Kasachisch ist dem Russischen sehr ähnlich, aber … Jurek Walter hat ein ungewöhnlich gebildetes Russisch gesprochen, als wäre er Professor an der Lomonossow-Universität.«
»Sie haben ihm gesagt, Sie seien fertig mit seinen Briefen«, sagt Joona. »Heißt das, es gab mehrere Briefe?«
»Nur den Brief, den er beantwortet hat.«
»Dann hat er also erst einen Brief bekommen?«, fragt Joona.
»Er war an mich gerichtet … von einem Anwalt, der anbot, sich einen Überblick über Jureks Rechte und Möglichkeiten zu verschaffen.«
»Und Sie haben Jurek das Schreiben gegeben?«
»Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, ich dachte, es gehöre zu den Menschenrechten, aber er ist kein …«
Sie weint und geht in dem weichen Bett ein paar Schritte rückwärts.
»Versuchen Sie bitte, sich zu erinnern, was …«
»Ich will meine Kinder haben, ich halte das nicht aus«, schluchzt sie und tritt wieder auf der Stelle. »Er wird ihnen wehtun.«
»Sie wissen, dass Jurek Walter im Sicherheitstrakt festgehalten …«
»Nur, wenn er es will«, schneidet sie ihm das Wort ab und schwankt. »Er täuscht alle, er kann raus und rein …«
»Das ist doch nicht wahr, Susanne«, widerspricht Joona ihr, um sie zu beruhigen. »Jurek Walter hat den Sicherheitstrakt in den letzten dreizehn Jahren kein einziges Mal verlassen.«
Sie sieht ihn an und sagt dann mit ihren weißen, aufgesprungenen Lippen:
»Sie wissen gar nichts.«
Es sieht beinahe aus, als wollte sie ihn auslachen.
»Habe ich Recht?«, fährt sie fort. »Sie wissen wirklich rein gar nichts.«
Sie blinzelt mit Augen, die trocken geworden sind, und ihre Hand zittert heftig, als sie ein paar Haare fortstreicht, die ihr ins Gesicht gefallen sind.
»Ich habe ihn auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus gesehen«, sagt sie leise. »Er stand einfach nur da und sah mich an.«
Das Bett knarrt unter ihren Füßen, und sie stützt sich mit der Hand an der Wand ab. Joona versucht, sie zu beruhigen:
»Ich verstehe ja, dass seine Drohung …«
»Sie sind einfach nur dumm«, schreit sie ihn an. »Ich habe Ihren Namen auf der Glasscheibe gesehen …«
Sie macht einen Schritt nach vorn, rutscht vom Bett herunter, schlägt mit dem Nacken hart gegen die Bettkante und bricht auf dem Boden zusammen.
127
Corinne Meilleroux legt ihr Handy auf den Tisch und schüttelt so heftig den Kopf, dass ein Dufthauch ihres exklusiven Parfüms sogar noch Nathan Pollock erreicht.
Er hat darauf gewartet, dass sie ihr Telefonat beendet und sich überlegt, dass er sie fragen wird, ob sie Lust habe, abends einmal mit ihm essen zu gehen.
»Ich finde nicht die Bohne heraus«, sagt sie.
»Nicht die Bohne«, wiederholt er mit einem schiefen Lächeln.
»Kann man das nicht sagen?«
»Es klingt nicht sonderlich modern, aber …«
»Ich habe mit Anton Takirov vom kasachischen Staatsschutz NSC gesprochen«, fährt sie fort. »Es ging ruckzuck. Seine Antwort, dass Jurek Walter kein kasachischer Staatsbürger sei, kam schneller, als ich mein Notebook aufklappen kann. Ich bin sehr freundlich
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