Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
sie ihm.
Jurek Walter sieht sie zufrieden an und nickt.
»Er sieht dich an, als wäre er hier der Gefangene.«
Sie öffnet die Tür zu Bernie Larssons Zimmer und tritt ein.
In dem Licht, das aus dem Aufenthaltsraum hereinfällt, sieht sie kurz, dass sein Zimmer eine genaue Kopie ihres eigenen ist. Dann schließt sie die Tür, und es wird stockfinster. Sie geht zur Wand und tastet sich vor, nimmt den Geruch alten Urins wahr, der aus der Toilette aufsteigt, und erreicht das Waschbecken, dessen Ränder so nass sind, als wäre es eben erst geputzt worden.
In ein paar Minuten werden die Türen zum Aufenthaltsraum verriegelt.
Sie sagt sich, dass sie nicht an ihre Mutter denken darf, sich ganz auf ihren Auftrag konzentrieren muss. Ihr Kinn beginnt zu zittern, aber es gelingt ihr, die Fassung zu bewahren und nicht in Tränen auszubrechen. Sie geht auf die Knie und tastet die kühle Unterseite des Beckens ab. Ihre Finger fahren die Wand entlang, gleiten über die Silikonfuge, finden aber nichts. Ein Wassertropfen fällt in ihren Nacken. Sie blinzelt in der Dunkelheit, tastet weiter unten, fährt mit der Hand über den Boden. Ein weiterer Wassertropfen fällt zwischen ihre Schulterblätter. Plötzlich wird ihr klar, dass sich das Becken ein wenig nach vorn neigt. Deshalb tropft das Wasser auf der Oberseite der Beckenränder auf sie herab, statt zum Abfluss zu laufen.
Sie presst das Waschbecken mit der Schulter hoch und tastet gleichzeitig an seiner Unterseite die Wand ab. Ihre Finger finden einen Spalt. Da ist es. Ein kleines hineingepresstes Päckchen. Schweiß läuft aus ihren Achselhöhlen. Sie presst das Becken weiter hoch. Es knirscht in seinen Verankerungen, und es gelingt ihr, das Päckchen vorsichtig herauszuziehen. Jurek Walter hatte Recht. Es sind Tabletten. Fest in Toilettenpapier gewickelt. Sie atmet schnell, krabbelt heraus, steckt das Päckchen in die Tasche und steht auf.
Während sie sich bis zu der Tür zum Aufenthaltsraum vortastet, überlegt sie, dass sie Jurek gegenüber behaupten wird, sie habe nichts finden können, Bernie müsse ihn angelogen haben. Sie erreicht die Wand, tastet sich in der Dunkelheit rasch weiter, bis sie die Tür findet, und kehrt in den Aufenthaltsraum zurück.
Saga blinzelt im hellen Licht und schaut sich um. Jurek Walter ist nicht da. Er muss in sein Zimmer zurückgekehrt sein. Die Uhr hinter dem Panzerglas zeigt an, dass die Türen zum Aufenthaltsraum in wenigen Sekunden verriegelt werden.
145
Anders Rönn klopft leise an die Tür der Überwachungszentrale. My sitzt vor dem großen Bildschirm und liest Zeitung.
»Kommst du, um mir Gute Nacht zu sagen?«, fragt sie.
Anders erwidert ihr Lächeln, setzt sich neben sie und sieht, dass Saga den Aufenthaltsraum verlässt und in ihr Zimmer geht. Jurek Walter liegt bereits in seinem Bett, und Bernie Larssons Zimmer ist natürlich einfach schwarz. My gähnt ausgiebig und lehnt sich auf dem Drehstuhl zurück.
Leif bleibt in der Tür stehen und trinkt die letzten Schlucke aus einer Dose Coca-Cola.
»Wie sieht das Vorspiel des Mannes aus?«, fragt er.
»Gibt es das?«, fragt My zurück.
»Eine Stunde bitten, betteln und überreden.«
Anders Rönn grinst, und My lacht so laut, dass der Schmuck in ihrer Zunge aufblitzt.
»Auf Station 30 sind sie diese Nacht etwas unterbesetzt«, sagt Anders.
»Komisch, dass hohe Arbeitslosigkeit immer mit Personalmangel einhergeht«, bemerkt Leif seufzend.
»Jedenfalls habe ich ihnen gesagt, dass du einspringen könntest«, sagt Anders.
»Aber hier unten sollen doch immer mindestens zwei sein«, wendet Leif ein.
»Das stimmt, aber ich werde heute auf jeden Fall bis eins arbeiten.«
»Okay, dann komme ich um eins runter.«
»Schön«, sagt Anders.
Leif wirft die Dose in den Papierkorb und verlässt den Raum.
Anders bleibt eine Weile schweigend neben My sitzen. Er kann sich nicht von Sagas Anblick losreißen, die in ihrer Zelle unruhig auf und ab geht und sich mit ihren schlanken Armen selbst umarmt.
Das Bild ist so scharf, dass er den Schweiß auf ihrem Rücken sieht.
Vor Sehnsucht kribbelt es in seinem Bauch. Er kann nur noch daran denken, dass er wieder zu ihr hineingehen wird. Diesmal wird er ihr zwanzig Milligramm Stesolid geben.
Er entscheidet, er ist der behandelnde Arzt, er kann sie mit Gurten fixieren, sie wie am Kreuz auf dem Bett befestigen, er kann machen, was er will. Sie ist psychotisch, paranoid, sie hat keinen, mit dem sie reden kann.
My gähnt lange, streckt sich
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