Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
sich so schnell in den Aufenthaltsraum begeben konnte.
Da das Stromkabel fehlt, gibt es keinen Grund, sich in der Nähe des Laufbands aufzuhalten. Sie muss einfach hoffen, dass die Reichweite des Mikrofons ausreicht.
Der Fernseher ist ausgeschaltet, aber sie setzt sich trotzdem auf die Couch.
Jurek Walter steht vor ihr.
Sie hat das Gefühl, keine Haut zu haben, als besäße er die eigentümliche Fähigkeit, ihr entblößtes Fleisch zu sehen.
Er setzt sich neben sie, und sie übergibt ihm diskret die Tablette.
»Jetzt brauchen wir nur noch vier«, sagt er, und seine hellen Augen begegnen ihren.
»Ja, aber ich …«
»Danach können wir diesen Ort verlassen.«
»Aber das will ich vielleicht gar nicht.«
Als Jurek Walter seine Hand ausstreckt und ihren Arm packt, zuckt sie fast zusammen. Er merkt, dass sie Angst bekommt, und sieht sie ausdrucklos an.
»Ich kenne einen Ort, den du eigentlich lieben müsstest«, sagt er. »Er ist nicht weit von hier. Es ist nur ein altes Haus hinter einer stillgelegten Zementfabrik, aber nachts kannst du hinausgehen und schaukeln.
»Es gibt eine Kettenschaukel?«, fragt sie.
Jurek muss weiter mit mir sprechen, denkt sie. Seine Worte sind kleine Teile, die ein Muster in dem Puzzle bilden, das Joona legt.
»Es ist nur eine ganz gewöhnliche Schaukel«, antwortet er. »Aber du kannst übers Wasser schaukeln.«
»Ist es ein See oder das …«
»Du wirst schon sehen, es ist schön dort.«
»Ich mag auch Apfelbäume«, sagt sie leise.
143
Saga hat das Gefühl, dass Jurek Walter eigentlich spüren müsste, wie schnell ihr Herz schlägt. Wenn das Mikrofon einwandfrei funktioniert, haben ihre Kollegen in diesem Moment bereits alle stillgelegten Zementfabriken ermittelt und sind vielleicht schon unterwegs.
»Es ist ein guter Ort, um sich zu verstecken, bis die Polizei nicht mehr nach einem sucht«, fährt er fort und sieht sie an. »Und wenn es dir dort gefällt, kannst du in dem Haus bleiben …«
»Aber du fährst weiter«, sagt sie.
»Das muss ich.«
»Und ich darf nicht mitkommen?«
»Willst du denn mitkommen?«
»Das kommt darauf an, wohin du willst.«
Saga ist sich bewusst, dass sie ihn eventuell zu sehr unter Druck setzt, aber in diesem Moment ist ihm daran gelegen, sie zu einem gemeinsamen Ausbruchsversuch zu überreden.
»Du musst dich auf mich verlassen«, erwidert er kurz angebunden.
»Das hört sich an, als wolltest du mich in dem ersten Haus zurücklassen?«
»Nein.«
»Es hört sich aber so an«, entgegnet sie verletzt. »Ich glaube, ich bleibe lieber hier, bis ich entlassen werde.«
»Und wann ist das?«
»Das weiß ich nicht.«
»Bist du sicher, dass sie dich jemals hinauslassen?«
»Ja«, antwortet sie ehrlich.
»Weil du ein braves kleines Mädchen bist, das seiner kranken Mama geholfen hat, als sie …«
»Ich war nicht brav«, fällt Saga ihm ins Wort und zieht den Arm an den Körper. »Denkst du etwa, ich wollte dort sein? Ich war nur ein Kind und habe getan, was ich tun musste.«
Er lehnt sich auf der Couch zurück und nickt.
»Zwang ist interessant.«
»Man hat mich nicht gezwungen«, protestiert sie.
»Aber das hast du doch gerade gesagt«, erwidert er lächelnd.
»So war das nicht … Ich meine, ich habe das schon geschafft«, sagt sie. »Sie hatte nur abends und nachts Schmerzen.«
Saga verstummt und denkt an einen Morgen nach einem wirklich harten Abend, als ihre Mutter ihr das Frühstück machte. Sie briet Eier, bestrich Brote und goss Milch ein. Anschließend gingen sie barfuß in ihren Nachthemden hinaus. Das Gras im Garten war taufeucht, und sie trugen die Polster zur Hollywoodschaukel.
»Du hast ihr Codein gegeben«, sagt Jurek in einem seltsamen Ton.
»Das hat ihr geholfen.«
»Aber es sind ziemlich schwache Tabletten – wie viele musste sie am letzten Abend nehmen?«
»Viele … sie hatte furchtbare Schmerzen …«
Saga fährt sich mit der Hand über die Stirn und stellt erstaunt fest, dass sie schweißnass ist. Sie will nicht darüber sprechen, hat seit Jahren nicht mehr daran gedacht.
»Mehr als zehn, vermute ich?«, fragt Jurek Walter leichthin.
»Normalerweise nahm sie nur zwei, aber an dem Abend brauchte sie viel mehr … ich habe die Pillen aus Versehen auf den Teppich verschüttet, aber … ich weiß es nicht mehr, ich denke, ich muss ihr zwölf, vielleicht auch dreizehn Tabletten gegeben haben.«
Saga spürt, dass die Muskeln in ihrem Gesicht zucken. Sie hat Angst, in Tränen auszubrechen, wenn sie
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