Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
bleibt, so dass sie schnell aufsteht, um in ihr Zimmer zurückzugehen.
»Deine Mutter ist nicht an Krebs gestorben«, ruft Jurek Walter ihr hinterher.
Sie bleibt stehen und dreht sich zu ihm um.
»Das reicht jetzt«, sagt sie ernst.
»Sie hatte gar keinen Gehirntumor«, fährt er leise fort.
»Du … ich war bei meiner Mutter, als sie starb, du weißt nichts von ihr, du kannst dir nicht …«
»Die Kopfschmerzen«, unterbricht Jurek sie. »Wenn man einen Tumor hat, sind die Schmerzen am nächsten Morgen nicht einfach weg.«
»So war es jedenfalls bei ihr«, widerspricht sie ihm mit Nachdruck.
»Die Schmerzen rühren daher, dass der Tumor auf Gehirnhäute und Blutgefäße drückt, wenn er wächst. Das geht nicht vorüber, es wird nur immer schlimmer.«
Sie sieht in Jurek Walters Augen, und ein Schauer läuft ihr über den Rücken.
»Ich …«
Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Am liebsten würde sie um sich schlagen und schreien, aber alle Kraft ist aus ihr gewichen.
Im Grunde hat sie immer schon gewusst, dass mit ihren Erinnerungen etwas nicht stimmt. Sie weiß noch, dass sie ihren Vater als Jugendliche angeschrien und beschuldigt hat, ein Lügner zu sein, und dass sie ihn angebrüllt hat, er sei der verlogenste Mensch, dem sie jemals begegnet sei.
Er hatte behauptet, ihre Mutter habe gar keinen Krebs gehabt.
Sie hatte immer gedacht, dass er versuchte, sie anzulügen, damit sein eigener Verrat an ihrer Mutter nicht so unverzeihlich erschien.
Jetzt weiß sie nicht mehr, woher die Idee vom Gehirntumor der Mutter eigentlich kam. Sie kann sich nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals behauptet hätte, an Krebs zu leiden, und im Krankenhaus war sie auch nie.
Aber wenn sie nicht krank war, warum hat meine Mutter dann jeden Abend geweint, denkt Saga. Da stimmt doch was nicht. Warum hat sie mich ständig gezwungen, meinen Vater anzurufen und ihm auszurichten, er müsse kommen? Warum nahm Mutter Codein, wenn sie gar keine Schmerzen hatte? Warum ließ sie sich von ihrer eigenen Tochter all diese Tabletten geben?
Jurek Walters Gesicht ist eine starre, dunkle Maske. Saga wendet sich ab und geht auf ihre Tür zu. Sie will in diesem Moment einfach nur wegrennen, will nicht hören, was er ihr sagen wird.
»Du hast deine eigene Mutter umgebracht«, sagt er ruhig.
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Saga bleibt abrupt stehen. Ihr Atem geht schnell, aber sie zwingt sich, keine Gefühle zu zeigen. Sie muss sich vergegenwärtigen, wer die Situation kontrolliert. Er glaubt, dass er sie hinters Licht führt, während es sich in Wahrheit so verhält, dass sie ihn hinters Licht führt.
Saga macht ein ungerührtes Gesicht und dreht sich langsam zu ihm um.
»Codein«, sagt Jurek Walter langsam und lächelt freudlos. »Die Pillen, die du beschrieben hast, gibt es nur als fünfundzwanzig Milligramm-Tabletten … Ich weiß genau, wie viele man davon benötigt, um einen Menschen mit ihnen zu töten.«
»Meine Mutter meinte, ich solle ihr die Tabletten geben«, erklärt Saga tonlos.
»Das mag sein, aber ich denke, du wusstest, dass sie sterben würde«, sagt er. »Ich bin mir sicher, deine Mutter hat geglaubt, dass du es wusstest … Sie dachte, dass du ihren Tod willst.«
»Leck mich«, flüstert sie.
»Vielleicht hast du es ja nicht anders verdient, als hier für immer eingesperrt zu werden.«
»Nein.«
Er sieht ihr mit furchterregender Intensität in die Augen.
»Es reicht vielleicht schon, wenn du mir noch eine Schlaftablette besorgst«, sagt er. »Bernie meinte gestern nämlich, er habe in dem Spalt unter dem Waschbecken einige Stesolid in einem Stück Papier versteckt. Vielleicht hat er das aber auch nur gesagt, um sich etwas Zeit zu kaufen.«
Ihr Herz schlägt schneller. Hat Bernie in seinem Zimmer Schlaftabletten versteckt? Was soll sie jetzt tun? Sie muss das stoppen. Sie kann nicht zulassen, dass Jurek Walter diese Pillen bekommt. Vielleicht sind es genug für seinen Fluchtplan.
»Du willst in sein Zimmer gehen?«, fragt sie.
»Die Tür steht offen.«
»Ich denke, es wäre besser, wenn ich das übernehme«, sagt sie schnell.
»Warum?«
Jurek Walter sieht sie mit einer Miene an, die fast amüsiert wirkt, während sie verzweifelt versucht, eine überzeugende Antwort zu finden.
»Wenn sie mich erwischen«, sagt sie, »dann … dann glauben sie bloß, dass ich abhängig bin und …«
»Aber dann bekommst du keine Tabletten mehr«, wendet er ein.
»Ich denke, ich kann von dem Arzt trotzdem neue bekommen«, widerspricht
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