Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
ein«, sagt er mit einer Stimme, die nicht wirklich trägt.
Sie macht zwei Schritte in den dunklen Eingangsbereich, aus dem eine breite Treppe in die obere Etage führt. Reidar weicht zurück. Sein Kinn zittert, und er hebt eine Hand zum Mund.
»Nein, nicht Felicia, nicht …«
»Wir haben sie gefunden«, sagt Saga schnell. »Sie lebt, sie wird durchkommen …«
»Ich muss … ich …«
»Sie ist sehr krank«, erläutert Saga. »Ihre Tochter leidet an der Legionärskrankheit in einem fortgeschrittenen Stadium, aber sie wird durchkommen.«
»Sie wird durchkommen«, wispert Reidar. »Ich muss zu ihr fahren, ich muss sie sehen.«
»Um sieben wird sie von der Intensivstation auf die Station für Infektionskrankheiten verlegt.«
Er sieht sie an, Tränen laufen über seine Wangen.
»Dann habe ich noch Zeit, mich anzuziehen und Mikael zu wecken …«
Saga folgt ihm in die Küche, die sie kurz zuvor durchs Fenster gesehen hat. Die Pendelleuchte wirft ein angenehm warmes Licht auf den Tisch mit der Kaffeetasse.
Im Radio läuft langsame Klaviermusik.
»Das Krankenhaus hat versucht, Sie anzurufen«, sagt sie. »Aber Ihr Tele…«
»Das ist mein Fehler«, unterbricht Reidar sie und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich musste das Telefon nachts ausstecken, ich weiß auch nicht, es rufen so viele verrückte Leute mit Tipps an, Menschen, die …«
»Ich verstehe.«
»Felicia lebt«, sagt Reidar tastend.
»Ja«, antwortet Saga mit Nachdruck.
Er lächelt breit und unkontrolliert und sieht sie mit rot unterlaufenen Augen an. Es hat fast den Anschein, als wollte er sie noch einmal fragen, aber dann schüttelt er nur lächelnd den Kopf, nimmt eine große Kupferkanne vom schwarzen Herd und gießt Saga einen Kaffee ein.
»Warme Milch?«
»Nein danke«, antwortet sie und nimmt die Tasse an.
»Ich will nur schnell Mikael wecken …«
Er geht in Richtung Flur, bleibt jedoch stehen und dreht sich noch einmal zu ihr um.
»Ich muss wissen, ob Sie … Haben Sie den Sandmann gefasst?«, fragt er. »Ich meine den Mann, den Mikael so nennt …«
»Er und Jurek Walter sind tot«, antwortet Saga. »Sie waren Zwillingsbrüder.«
»Zwillingsbrüder?«
»Ja, sie haben zusammengearbeitet und …«
Plötzlich geht in der Küche das Licht aus und die Musik aus dem Radio verstummt. Es wird vollkommen dunkel und still.
»Ein Stromausfall«, murmelt Reidar und betätigt mehrmals erfolglos den Lichtschalter. »Ich glaube, ich habe noch Kerzen im Schrank.«
»Felicia war in einem alten Schutzraum eingeschlossen«, berichtet Saga.
Nach einer Weile findet der Widerschein des Schnees vor dem Haus den Weg in die Küche, und Saga sieht, dass Reidar sich zu einem großen Schrank vortastet.
»Wo lag dieser Schutzraum?«, erkundigt er sich.
Saga hört es wie von Holzstäben klappern, als Reidar in einer Schublade sucht.
»In der alten Kiesgrube in Rotebro«, antwortet sie.
Saga sieht, dass er stehen bleibt, einen Schritt zurücktritt und sich umdreht.
»Dort bin ich aufgewachsen«, erklärt er sachte. »Und jetzt erinnere ich mich auch an die Zwillinge. Ich begreife es nicht ganz, aber sie müssen Jurek Walter und sein Bruder gewesen sein … ich habe als Kind ein paar Wochen mit ihnen gespielt … aber warum, warum hat …«
Er verstummt, steht da und starrt in die Dunkelheit hinein.
»Ich weiß nicht, ob es darauf eine Antwort gibt«, sagt sie.
Reidar findet Streichhölzer und reißt eines an.
»Ich wohnte als Kind in unmittelbarer Nähe der Kiesgrube«, erzählt er. »Die Zwillinge waren ungefähr ein Jahr älter als ich. Sie saßen eines Tages auf einmal hinter mir im Gras, als ich Plötzen angelte … in dem Fluss, der in den Edssjön fließt …«
Reidar findet unter der Spüle eine leere Weinflasche, presst die brennende Kerze hinein und stellt die Flasche auf den Tisch.
»Sie waren ein bisschen seltsam … aber wir fingen an zu spielen und ich begleitete sie in ihre Wohnung, ich weiß noch, dass es Frühling war, ich bekam einen Apfel …«
Das Licht der Kerze erhellt den Raum und lässt die Fenster schwarz und undurchsichtig werden.
»Sie nahmen mich zur Kiesgrube mit«, fährt Reidar fort, der sich jetzt an immer mehr erinnert. »Es war verboten, sich dort aufzuhalten, aber sie hatten ein Loch im Zaun gefunden und so spielten wir dort Abend für Abend. Es war spannend, wir kletterten auf die Hügel und rollten im Sand hinunter …«
Reidar verstummt.
»Was wollten Sie sagen?«
»Ich habe
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