Der sanfte Kuss des Todes
dass Jack die Botschaft verstand.
Sie hörte leise Schritte, und ihre Schultern spannten sich an. Bevor sie etwas sagen konnte, legten sich seine Arme um ihre Taille, und er zog sich an sich.
»Ich bin wirklich müde. Warum gehen wir nicht …«
»Schh…« Sein Atem strich warm über ihren Nacken, und sie wusste, dass er sie gleich küssen würde.
»Bitte nicht.«
Sie stand reglos da und kämpfte gegen ihren ersten Impuls an. Sie wollte ihm sagen, dass er sie in Ruhe lassen und endlich verschwinden sollte, dass sie allein sein wollte. Aber das alles hatte nichts mit ihm zu tun, und er würde glauben, sie hätte einen Dachschaden.
»Entspann dich«, sagte er. »Ich will dich nur im Arm halten.«
Sie wollte nicht im Arm gehalten werden. Aber sie wollte auch nicht gemein sein, deshalb wehrte sie sich nicht. Ein bitter schmeckender Kloß steckte in ihrer Kehle, und sie versuchte ihn hinunterzuschlucken.
»Ich kann mir vorstellen, wie es dir jetzt geht.«
Sie schnaubte.
»Fiona.« Seine Stimme klang sanft, aber bestimmt. »Du bist nicht die Einzige, die zusehen musste, wie ein Fall schlecht ausgeht.«
Ein Fall. Shelby Sherwood war ein Fall. Wie so viele andere, mit denen sie im Lauf der Jahre zu tun gehabt hatte. Das kleine Mädchen war nichts als ein Name mit einem Aktenzeichen.
Sie befreite sich aus Jacks Armen und drehte sich um.
»Weißt du was? Dieser Fall ist zum Kotzen. Alle meine Fälle sind zum Kotzen. Und weißt du auch, warum? Weil es immer das Gleiche ist.« Sie zitterte vor Wut, aber das war ihr egal. Jack steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans und sah sie schweigend an.
»Jedes Mal, wenn man mich ruft, damit ich eine Zeichnung von einem Täter mache, handelt es sich um einen Mann. Irgendeinen minderbemittelten, kranken, durchgeknallten Typen. Und weißt du noch was? Jedes Mal, wenn man mich ruft, damit ich eine Zeichnung von einem Opfer mache, handelt sich um ein Kind oder eine Frau. Die Mutter von jemandem oder die Tochter oder die Schwester, die man umgebracht hat und abgeladen wie ein Stück Müll. Das sind die Fälle, die ich bekomme. Sie war zehn Jahre alt, Jack. Zehn! Was ist das für ein Mensch, der so etwas fertigbringt? Ich begreife es einfach nicht.«
»Das sind die Fälle, die wir alle bekommen«, sagte er leise. »Das liegt an unserer Arbeit.«
»Ich hasse diese Arbeit! Ich will diese Arbeit nicht mehr! Und jedes Mal, wenn ich versuche aufzuhören, zerrt mich jemand zurück.«
»Das stimmt nicht.«
»Doch. Du hast es getan. Nathan tut es. Die Polizei von Graingerville, die Polizei von Austin, das FBI. Jeder.«
Er setzte sich auf das Bett und sah sie an. »Niemand zwingt dich, es zu tun. Du tust es, weil du gut bist und weil du dich dazu verpflichtet fühlst – genau wie ich.«
Sie starrte ihn an, und das Wissen, dass er recht hatte, ließ ihre Frustration nur noch größer werden.
Er hatte recht. Niemand zwang sie dazu, das zu tun, was sie tat. Sie traf ihre eigenen Entscheidungen, und es war ihre Entscheidung gewesen, die Malerei hintanzustellen, damit sie mit der Polizeiarbeit weitermachen konnte. Jedes Mal, wenn sie ans Telefon ging und einen Auftrag annahm, war es ihre Entscheidung.
»Komm her.« Er nahm ihre Hand und zog sie zum Bett.
»Jack, ich bin müde.«
»Setz dich einfach zu mir.«
Sie ließ sich neben ihn auf das Bett sinken und rieb sich die Augen. Sie war wirklich müde. Es war keine Ausrede, sie fühlte sich auf einmal völlig erschöpft.
Er hob die Hand und strich ihr durchs Haar. Dann ließ er seine Hand über ihren Rücken gleiten und folgte mit den Fingern durch den Stoff des Morgenmantels hindurch ihrer Wirbelsäule. Seine Berührung war federleicht, und eigentlich hätte es sie kitzeln müssen, aber es fühlte sich einfach nur gut an. Langsam wich die Anspannung von ihr, und sie legte den Kopf an seine Schulter.
»Leg dich hin«, flüsterte er.
Sie richtete sich auf und verspannte sich wieder. Seine Hand glitt zu ihrem Nacken und er strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Lass mich das für dich tun.« Er gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Ich will das schon die ganze Zeit für dich tun.«
Sie sah ihn in der Dämmerung an und das Herz klopfte ihr bis in den Hals. Seine leise, heisere Stimme erzeugte eine Wärme, die sich überall in ihrem Körper ausbreitete. Sie wünschte, sie könnte einfach mit ihm zusammen sein und sich seinen Berührungen überlassen und alles andere
vergessen, vor allem die Schuld, die sie allein deshalb
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