Der sanfte Kuss des Todes
vielversprechend klangen, folgten Vernehmungen durch Polizeibeamte, und sie hatten auf diesem Wege einige Informationen erhalten, die es wert waren, ihnen weiter nachzugehen. Es war eine mühselige Arbeit und setzte alle Beteiligten unter enormen Druck, weil möglicherweise der eine Hinweis, den man vernachlässigte, der entscheidende war. Sie alle verfolgte der Fall Polly Klaas. Nur wenige Stunden nachdem die Zwölfjährige bei ihrer Pyjamaparty entführt worden war, griffen zwei Streifenpolizisten keine fünfzig Kilometer von Pollys Haus entfernt einen Mann auf, den jemand wegen unbefugten Betretens eines Grundstücks gemeldet hatte. Nicht ahnend, dass der Mann wegen eines Verstoßes gegen seine Bewährungsauflagen gesucht wurde, halfen ihm die Polizisten, sein Auto aus dem Graben zu ziehen, und ließen ihn weiterfahren.
Wochen später gestand dieser Mann – Richard Allen Davis – den Mord an Polly und führte die Ermittler zu ihrer Leiche.
Kindesentführungen waren ein Albtraum, aber Sullivan gab die Hoffnung nicht auf, und zwar in erster Linie wegen Fiona Glass. Er versprach sich sehr viel von ihrer Zeichnung, und nachdem er sie persönlich kennengelernt hatte, verstand er auch, worauf ihr Ruf gründete.
Die einen schrieben ihr übersinnliche Fähigkeiten zu, andere sprachen von Telepathie. Solche schlagzeilenträchtigen Fälle waren natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien. Sullivan befasste sich allerdings mit Fakten,
nicht mit Esoterik. Fiona hatte keine übersinnlichen Fähigkeiten, aber sie besaß tatsächlich eine Gabe. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass ihre Zeichnung das Aussehen des Täters genau wiedergab, was sich zeigen würde, sobald sie ihn dingfest gemacht hatten. Die Frau verfügte über eine ausgeprägte Intuition. Er hatte sie belauscht, während er vor dem Schlafzimmer wartete, in dem sie mit Colter Sherwood sprach. Sie war im Umgang mit Zeugen erstaunlich einfühlsam und wusste genau, wie sie alle möglichen Informationen, deren sie sich bis dahin nicht einmal selbst bewusst gewesen waren, aus ihnen herausholen konnte.
Sullivan blätterte in der Akte, bis er den knappen Bericht über die Frau, die er gleich treffen sollte, gefunden hatte. Rasch überflog er noch einmal die zentralen Punkte, bevor er die Akte zurück auf den Beifahrersitz legte und ausstieg. Er führte Vernehmungen lieber ohne Stift und Papier durch. Viele Leute reagierten verschlossen, wenn sie den Eindruck hatten, er würde sich Aufzeichnungen machen, obwohl er genau das die meiste Zeit tat. Sullivan sperrte den Taurus ab, überquerte den Bürgersteig und betrat das Second Go Round. Die Besitzerin des Secondhandladens führte Sullivan nach hinten, während sie wiederholte, was sie bei der ersten Vernehmung ausgesagt hatte.
»Das ist Ron«, erklärte sie. »Ganz bestimmt. Ich kann mir Gesichter gut merken, das habe ich schon dem Polizisten am Telefon gesagt. Ich bin mir völlig sicher.«
Sie schob einen Ständer mit Kleidern zur Seite und trat durch eine schmale Tür. Sullivan folgte ihr in das schummrige Büro.
»Sie müssen das Durcheinander entschuldigen«, sagte sie.
»Durcheinander« war eine ziemliche Untertreibung für den Raum, in dem es durchdringend nach Moder und Lufterfrischer
mit Vanillearoma roch. An den Wänden stapelten sich Berge von Hemden, Hosen und Kleidern. Ein großer schwarzer Container auf Rädern war randvoll mit Schuhen gefüllt. In einem anderen Container lagen Jacken und Mäntel in Kindergröße. An der hintersten Wand standen mehrere durchsichtige Plastikkisten, aus denen Socken, Gürtel und andere, in dem diffusen Licht nicht genau zu identifizierende Sachen quollen. Die einzige Lichtquelle im Raum war eine alte Stehlampe mit einem fransenbesetzten gelben Schirm.
»Er hat die eingehenden Artikel sortiert«, sagte die Ladenbesitzerin. »Die Leute bringen alles Mögliche her. Alles einfach in Tüten gestopft.« Sie deutete mit dem Kopf auf mehrere Kleiderständer, auf denen lauter leere Bügel hingen. »Ich komme kaum noch hinterher, seit er weg ist. Vor allem nach dem Ansturm zu Neujahr – wenn die Leute ihre Schränke und Keller ausmisten.«
Die Hintertür wurde von einem verrosteten Einkaufswagen offen gehalten, offenbar um Luft hereinzulassen, vielleicht aber auch Licht. Sullivan stieg über einen Haufen mit Herrenpullovern. »Sie sagten, dass er ein Bewerbungsformular ausgefüllt hat. Haben Sie es vielleicht greifbar?«
»Sicher.« Sie ging zu einem schwarzen
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