Der sanfte Kuss des Todes
sie die Aufmerksamkeit, die letztlich vermutlich auf Jack zurückging, zu schätzen. Es war offensichtlich, wie beliebt er war, als sie gemeinsam die Verwaltung von Grainger County betreten hatten. Das sollte sie eigentlich nicht überraschen. Er strahlte genau die Mischung von Selbstbewusstsein und freundlicher Gelassenheit aus, die bei Männern den Wunsch weckte, sich mit ihm über Sport zu unterhalten, und bei Frauen, mit ihm zu flirten.
Fiona durchquerte den Raum, der für das Leichenschauhaus eines County angenehm still war. Sie sah sich um, musterte mit einem raschen Blick die Stahltische und -waschbecken, die Lampen und Schläuche, den metallenen Rolltisch, auf dem ordentlich aufgereiht sterilisierte Instrumente
lagen, und stellte einmal mehr fest, dass davon etwas Beruhigendes ausging. Egal in welchem County oder Staat sich diese Räume befanden, sie ähnelten sich alle.
Sie holte eine kleine Plastikdose aus ihrer Handtasche und schraubte den Deckel auf. Nachdem sie sich etwas Wick unter die Nase gerieben hatte, setzte sie sich und spürte sofort die Kälte des harten Metallstuhls durch ihre Jeans. Sie erschauerte und war Jack dankbar dafür, dass er ihr sein Flanellhemd geliehen hatte.
Sie streifte ein Paar hellblaue Latexhandschuhe über. Dann zog sie das Tuch vom Gesicht des Mädchens und schob es bis auf die Schultern, während sie sich mental in gewohnter Weise auf die vor ihr liegende Aufgabe vorbereitete, indem sie die bekannten Daten durchging. Weiblich, hispanischer Herkunft. Alter schätzungsweise sechzehn oder siebzehn. Größe einsfünfundfünfzig. Gewicht achtundvierzig Kilo. Name unbekannt. Diese Angaben hatten neben einigen anderen in dem vorläufigen Obduktionsbericht gestanden, den ihr der Rechtsmediziner überlassen hatte. Dem Bericht waren außerdem einige gutgemeinte, aber praktisch nutzlose Polaroidfotos beigelegt.
Bei vielen Obduktionen wurden Fotos von dem liegenden Leichnam gemacht, wobei Größenverhältnisse, Lichteinfall oder die Auswirkungen der Schwerkraft praktisch nicht berücksichtigt wurden. Für eine brauchbare Aufnahme müsste der Fotograf warten, bis die Leichenstarre nachgelassen hatte, die Leiche dann aufrichten, damit das Gewebe seine natürliche Lage einnehmen konnte, und an einer passenden Stelle ein Lineal oder einen anderen geeigneten Gegenstand platzieren, mit dessen Hilfe man die Größenverhältnisse abschätzen konnte. In vielen Leichenschauhäusern verzichtete man jedoch auf all das, so dass
Fiona normalerweise besser damit fuhr, ihre Zeichnung direkt von der Leiche anzufertigen, sofern das möglich war, statt von einem Foto.
Fiona blieb einen Augenblick lang still sitzen und betrachtete das Mädchen.
Sie war hübsch gewesen, das war unschwer zu erkennen. Die faltigen, bräunlich verfärbten Lippen und Lider konnten ihre Schönheit einer Frau, der der Anblick von Leichen vertraut war, nicht verbergen. An der rechten Schläfe und der Oberlippe waren einige oberflächliche Abschürfungen zu sehen und um den Hals herum die Würgemale, auf die der Rechtsmediziner in seinem Bericht ausführlich eingegangen war. Ein weiteres verräterisches Zeichen – die winzigen roten Flecken in ihren Augenwinkeln. Die Blutergüsse an Wangen und Kinn sagten Fiona, dass ihre letzten Stunden schlimm gewesen waren. Ging man davon aus, was Lucy durchgemacht hatte, waren sie grauenhaft gewesen.
Zum ersten Mal seit Wochen war Fiona froh über die Kälte. Mordermittlern war es immer lieber, wenn es kalt war, vor allem in Texas, wo sie sehr viel häufiger mit Hitze, hoher Luftfeuchtigkeit und Unmengen von Insekten zu tun hatten. In diesem Fall war dank der niedrigen Temperaturen der letzten Tage der Verwesungsprozess noch nicht weit fortgeschritten. Hinzu kam, dass man die Leiche ziemlich schnell gefunden hatte. Nach Schätzung des Rechtsmediziners waren seit Eintritt des Todes erst acht bis zwölf Stunden vergangen. Er hatte außerdem vermerkt, dass die Male an ihrem Hals auf einen Täter mit großen Händen schließen ließen.
Fiona musterte das Gesicht des Mädchens, versuchte hinter die Spuren der Gewalt zu blicken und sich vorzustellen,
wie sie im Leben gewesen sein mochte. Das entscheidende Kriterium bei einer Identifizierung war das Verhältnis der Gesichtszüge zueinander – nicht unbedingt die genauen Einzelheiten. Korrekte Proportionen waren wichtiger als die präzise Wiedergabe von Augen oder Nase. Aus diesem Grund konnte man Verbrecher anhand der verschwommenen Bilder
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