Der sanfte Kuss des Todes
Metallschreibtisch, auf dem sich Berge von Papier stapelten. »Hier irgendwo muss es sein.«
Sullivan stellte im Geiste eine Beschreibung der Zeugin zusammen. Sie hatte ihre platinblonden Haare zu einer Art Knoten hochgesteckt, und während sie auf dem Schreibtisch herumkramte, fielen ihr ein paar strohige Strähnen ins Gesicht. Sie hatte dem Kollegen ihr Alter mit neunundvierzig angegeben, aber Sullivan schätzte sie eher auf Ende fünfzig.
»Da ist es!« Sie zog ein Blatt Papier aus der Schublade und hielt es ihm hin.
»Danke.« Er nahm das Formular und trat näher zu der offenen Tür, wo es etwas heller war.
Ron Jones . Stark nach links geneigte Handschrift. 339 Elm St. Dazu eine Telefonnummer, die mehrmals durchgestrichen war.
Sullivan lief ein Kribbeln über den Rücken. Jede einzelne Angabe auf diesem Formular wirkte erfunden.
»Prüfen Sie die Angaben nach?«, fragte er.
»Lieber Gott, nein. Ich war froh, dass sich überhaupt jemand gemeldet hat.« Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. »Das hier ist nicht gerade ein Traumjob, und ich kann gerade mal den Mindestlohn zahlen.«
Sullivans Herzschlag beschleunigte sich, als er das Formular genauer unter die Lupe nahm. »Ron« hatte eine zehnstellige Sozialversicherungsnummer angegeben. »Haben Sie jemals seinen Führerschein gesehen? Seinen Sozialversicherungsausweis?«
Die Ladenbesitzerin schüttelte den Kopf. »Er sagte, er hätte seinen Ausweis verloren, aber er wollte einen neuen beantragen. Amerikaner war er jedenfalls – das war unverkennbar. Ich habe gesagt, er soll sich deswegen keine Gedanken machen.« Sie biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. »Seinen Lohn habe ich ihm immer bar ausbezahlt. Meine Buchhaltung für die Steuer ist ehrlich gesagt nicht immer auf dem aktuellen Stand.«
Sullivan erwiderte nichts darauf, und sie sprach wie erwartet hastig weiter.
»Er schien ein anständiger Kerl zu sein, verstehen Sie? Bis er vergangene Woche plötzlich nicht mehr erschienen ist. Keine Nachsendeadresse, nichts.«
»Wie kam er zur Arbeit?«
»Mit dem Bus.« Sie sah hinauf zur Decke und klopfte sich mit dem Finger gegen das Kinn, als versuche sie sich zu erinnern. »Ich weiß nicht mehr, mit welcher Linie.«
Sullivan sah sich im Raum um. »Haben Sie einen Computer?«
»Natürlich, vorne.«
Die Ermittler gingen davon aus, dass Shelby ein paar Wochen vor ihrer Entführung jemanden in einem Chatroom kennengelernt hatte. »Wissen Sie, ob er den mal benutzt hat?«
»Hin und wieder, wenn nicht viel los war. Aber die meiste Zeit blieb er hier hinten. Er war einer von den Stillen.«
Sullivan sah aus der Tür, die auf eine Zufahrtsstraße führte. Sein Herz hämmerte, wie meistens, wenn er auf eine verheißungsvolle Spur stieß.
»Haben Sie ihm einen Schlüssel gegeben?«, fragte er.
»Nein. Aber er musste ein paarmal den Laden zusperren, deshalb habe ich ihm gesagt, wo der Ersatzschlüssel versteckt ist, und er hat ihn jedes Mal zurückgelegt. Wie gesagt, ich hatte nie irgendwelche Probleme mit ihm.«
Sullivan steckte den Kopf durch die Tür.
»Hier bringen die Leute ihre Sachen her«, erklärte sie ihm. »Ich komme dann und nenne ihnen einen Preis. Entweder sie akzeptieren oder sie lassen es bleiben.«
Er musterte die Umgebung. Auf der anderen Seite der Zufahrt befand sich ein schmaler Grasstreifen, dahinter lag ein Parkplatz. Zu dem Einkaufszentrum in etwa vierzig Metern Entfernung gehörten ein UPS-Büro, ein Sandwichladen und ein Ballettstudio. Vor der Eingangstür standen drei Mädchen dicht aneinandergedrängt in der Kälte. Sie trugen dicke Jacken, während ihre Beine lediglich in hellrosa
Strumpfhosen steckten. Ein weißer Geländewagen hielt am Straßenrand, um sie einzusammeln.
Sullivan holte sein Handy heraus. Sein Vorgesetzter meldete sich beim ersten Klingeln.
»Ich bin’s, Sullivan. Ich bin gerade in Birmingham.«
»Und?«
»Ich glaube, wir haben etwas.«
Fiona betrat den Obduktionsraum und dankte im Stillen dem Mitarbeiter, der kurz vor ihr hier gewesen war, dafür, dass er mitgedacht hatte.
Während sie sich eingetragen und einen Besucherausweis erhalten hatte, hatte er die unbekannte Tote aus dem Kühlfach geholt und auf eine Bahre im Obduktionsraum gelegt, in dem einigermaßen erträgliche sechzehn Grad herrschten. Neben der mit einem Tuch bedeckten Leiche stand ein Metallklappstuhl für Fiona. Da sie ihrer Arbeit schon oft zermürbende Stunden unter weitaus unangenehmeren Bedingungen nachgegangen war, wusste
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