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Der sanfte Kuss des Todes

Titel: Der sanfte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Griffin
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ungewöhnlich war. Die Nähmaschine fing an zu rattern, als sie mit dem Fuß auf das Pedal drückte.
    »Jack will diesen Kerl unbedingt erwischen«, sagte Lucy, ohne den Blick zu heben.
    »Und Sie?«
    Die Maschine verstummte. Lucy sah sie an. Fiona kannte den Ausdruck in ihren Augen, er hatte etwas Wildes.
    »Das sadistische Schwein hat mich zwei ganze Tage gequält. Dafür soll er büßen.«
    Fiona nickte, nahm einen Stift. »Erinnern Sie sich so gut an ihn, dass Sie ihn beschreiben können?«
    Lucy presste die Lippen aufeinander und sah wieder auf ihre Arbeit. Die Nadel raste über den Stoff. »Ja.«
    »Es ist nicht schlimm, wenn Sie das nicht können. Wenn Sie sich an irgendetwas nicht erinnern können, dann sagen Sie es einfach. Wir kriegen das schon hin.«

    »Ich kann mich aber gut erinnern.« Sie schüttelte den Kopf. »Selbst an Details. So als wäre es gestern gewesen.«
    Das Gedächtnis war eine merkwürdige Sache. Es erinnerte sich an Dinge, die vor ewig langer Zeit geschehen waren, und manches, was man erst gestern erlebt hatte, sortierte es sofort aus. Fiona konnte sich haarklein daran erinnern, was sie getragen hatte, als die Türme des World Trade Center eingestürzt waren. Sie erinnerte sich sogar, welche Farbe der Himmel an diesem Morgen gehabt hatte, und an den Kaffeebecher, den sie in der Hand gehalten hatte, als sie vor dem Fernseher stand. Wenn sie dagegen jemand fragen würde, was sie vor zwei Wochen im Kino getragen hatte, dann könnte sie ihm keine Antwort geben.
    Emotionale Traumen, insbesondere Angst, verfestigten Erinnerungen. Das gehörte zu den Überlebensmechanismen des Körpers, wie sie gelernt hatte.
    »Erzählen Sie mir von dem Gesicht«, sagte Fiona. »Alles, woran Sie sich erinnern können.«
    Die Maschine stoppte. Lucys Hände hielten den Stoff umklammert, und sie starrte in die Ferne, durch die Fensterscheibe auf den winterlichen Tag draußen.
    »Ich erinnere mich ganz genau«, sagte sie leise. »Dieses Gesicht ist in mein Hirn eingebrannt.«
     
    »Und? Was hast du erreicht?«
    Jacks Kollege am anderen Ende der Leitung seufzte. »Das ist nicht so leicht, wie du vielleicht glaubst, J. B. Für ein paar Sachen bräuchten wir eine richterliche Anordnung.«
    Jack lehnte sich gegen die Holzbrüstung auf der Veranda der Arrellandos. Die beiden Frauen waren jetzt schon seit einer Stunde und vierzig Minuten da drin.
    »Stell dich nicht so an«, sagte Jack. »Komm schon, Carlos.
Das ist doch das Schöne, wenn man Polizist in einer Kleinstadt ist. Wir können ein paar Abkürzungen nehmen.«
    Carlos fluchte leise auf Spanisch. »Dann rede du doch mit ihr. Du bist der Hübschere von uns beiden. Ich bin der Kerl mit dem Bierbauch und den sechs Kindern.«
    Jack lächelte. »Vergiss deine Frau nicht.«
    Ein weiterer Fluch.
    »Okay, Norma will uns also nicht helfen«, sagte Jack. »Aber sie ist nicht die Einzige bei der Jagd- und Fischereibehörde. Wie sieht es mit Melvin aus?«
    Darauf erwiderte Carlos nichts, und Jack bemerkte zu spät seinen Fauxpas. Melvin war ein echter Rassist. Er äußerte sich zwar nie offen in dieser Richtung, aber es war jedes Mal kaum zu übersehen, wenn der Alte mit den beiden mexikanischstämmigen Kollegen von Jack zu tun hatte.
    »Vergiss es, ich werde selbst mit ihm sprechen«, sagte Jack verständnisvoll und warf erneut einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte heute eine ganze Menge Arbeit vor sich und bisher noch nichts davon erledigt. Wenn er Pech hatte, musste er jetzt auch noch Melvin eine Stunde um den Bart gehen, damit er eine Liste mit den Namen sämtlicher Männer hier in der Gegend herausrückte, die vor elf Jahren einen Jagdschein beantragt hatten. Vielleicht würde er diese Aufgabe Lowell übertragen.
    Die Spur war ziemlich dünn. Jack war in den letzten Tagen sicherlich ein Dutzend Mal das damalige Protokoll zu Lucys Anzeige und die Aussagen der Jäger, die sie gefunden hatten, durchgegangen. Sie hatten sie nordwestlich von Graingerville in einer abgelegenen Ecke inmitten einer riesigen Ebene mit niedrigem Bewuchs entdeckt, wo nur ein paar Schotterwege hinführten. Ein reines Jagdgebiet.
Keiner der damals an den Ermittlungen Beteiligten hatte überprüft, wem das Land gehörte oder wer dort das Jagdrecht hatte. Laut Lucys Aussage war sie in einem der Anhänger oder Wohnwagen gefangen gehalten worden, die man an ein Auto hängen konnte. Solche Anhänger benutzten wahrscheinlich eine ganze Menge Leute, wenn sie über mehrere Tage auf die Jagd gingen.

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