Der sanfte Kuss des Todes
jeder hier in der Stadt bestätigen.«
Ihre Augen blitzten ihn wütend an. Ob er wollte oder nicht, es erregte ihn.
»Jack, du bist sicher einen Meter fünfundachtzig groß und gebaut wie ein Preisboxer. Und du müsstest selbst mal den Blick sehen, den du manchmal an dir hast.«
»Welchen Blick denn?«
»Ach, bitte.« Mittlerweile sah sie ihn fast flehend an. »Ich habe genug Erfahrung in der Vernehmung von Zeugen, und ich bitte dich, mich mit dem Jungen allein zu lassen. Das ist das Beste für den Zeugen.«
Wieder einmal der Zeuge. Das Opfer. Jack lagen die Opfer wirklich am Herzen. Deshalb hatte er ja unbedingt gewollt, dass Fiona mit Lucy redete. Aber Lucy war auch ein richtiges Opfer. Diese Ermittlung war viel zu wichtig, als dass er alle immer nur mit Samthandschuhen anfassen konnte. Langsam ging ihm dieser Eiertanz ganz schön auf die Nerven.
»Ich muss wissen, was der Junge zu erzählen hat«, sagte er. »Er liefert die beste Spur, die ich zurzeit habe.«
»Das verstehe ich ja. Ich werde dir auch alles haarklein berichten. Wenn du die Erlaubnis dazu bekommst, kannst du alles sogar auf Video aufnehmen. Aber ich will dich nicht dabeihaben.«
Jemand klopfte an die Tür und machte sie auf. Carlos streckte etwas verlegen den Kopf ins Zimmer. Jack warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Entschuldigung, J. B., aber Bradys Mutter ist da.«
Jack drehte sich wieder zu Fiona, die ihn immer noch bittend ansah. Verflixt noch mal, er konnte ihr einfach nichts abschlagen. Aber wehe, sie schätzte den Knaben falsch ein.
Falls doch, dann würde er sich ihn vorknöpfen, sobald sie fertig war, und ihn weiter ausquetschen.
»Ich brauche noch zwei Minuten«, sagte er zu Carlos. »Dann kannst du Brady reinschicken. Ich werde mit seiner Mutter reden.«
Carlos räusperte sich. »Das ist ja das Problem. Sie hat mir gerade gesagt, dass Brady abgehauen ist.«
Fionas Magen knurrte, als sie auf die Uhr sah. Vier Stunden und noch immer keine Spur von Brady. Jedes Mal, wenn sie kurz davor stand, rauszugehen und etwas zu essen, beschloss sie, noch eine Viertelstunde zu warten. Sämtliche Kollegen von Jack suchten nach dem Jungen. Sie mussten ihn bald finden. Es konnte doch nicht so schwer sein, ein Kind zu finden, das auf einem lilafarbenen Mountainbike durch eine Kleinstadt kurvte.
Sie betrachtete die Seminararbeiten, die sie auf Jacks Schreibtisch ausgebreitet hatte, froh, dass sie sie von zu Hause mitgenommen hatte. Auf diese Weise konnte sie
den Vormittag über wenigstens etwas Sinnvolles tun, auch wenn sie nichts zur Lösung des Mordfalls hatte beitragen können. Da sie immerhin drei Dutzend Seminararbeiten durchgeackert hatte, käme sie heute Abend tatsächlich ein bisschen zum Malen, vorausgesetzt natürlich, dass sie früh genug wieder in Austin war.
Sie schrieb ein paar Bemerkungen an den Rand einer der Seminararbeiten, und dabei wanderte ihr Blick zu dem Foto neben Jacks Telefon. Zwei Mädchen, die Arm in Arm dastanden und in die Kamera lächelten. Fiona schätzte sie auf sieben und neun Jahre. Sie sahen Jack sehr ähnlich, dieselben graublauen Augen und dasselbe eckige Kinn, und Fiona fragte sich zum x-ten Mal, ob Jack schon einmal verheiratet gewesen war.
Aus irgendeinem Grund passte ihr der Gedanke nicht, und sie sah sich noch mal den Stapel mit Fahndungsfotos an, der auf Jacks Aktenschrank lag. Er hatte sie auf ihre Bitte hin von der Korkwand entfernt, aber erst, nachdem sie sie sich angesehen hatte. Fiona hatte es sich angewöhnt, Gesichter genau zu betrachten, und ohne es darauf angelegt zu haben, hatten sich ihr die Fotos aus Jacks Sammlung binnen kürzester Zeit eingeprägt. Ein großer Teil stammte von der FBI-Liste mit den zehn meistgesuchten Verbrechern.
Fiona hatte eine eigene Top-Ten-Liste – Vergewaltiger und Mörder, deren Gesichter ihr in den frühen Morgenstunden erschienen, egal wie sehr sie sich auch bemühte, sie zu vergessen. Sie stammten in erster Linie aus Fällen, die ad acta gelegt worden waren, aus einigen der schlimmsten Ermittlungen, an denen sie mitgewirkt hatte und die nie zu einem Ende gebracht werden konnten. Kürzlich war Lucys Entführer zu dieser Liste hinzugekommen. Wann
immer Fiona Selbstmitleid überkam, weil ihr Job sie mit so fürchterlichen Geschichten konfrontierte, dachte sie an die Opfer. Sie fragte sich, wie sie schliefen – so sie die an ihnen verübten Verbrechen überhaupt überlebt hatten. Viele hatten das nicht. Was sie betraf, fragte sich Fiona, wie deren
Weitere Kostenlose Bücher