Der sanfte Kuss des Todes
während dieses Gesprächs sah er aus wie ein kleiner Junge. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, dann wagte er einen kurzen Blick zu Fiona. »Sie war ganz nackt. Das habe ich mir nicht ausgedacht. So war sie schon, als er sie gebracht hat.«
»Das glaube ich dir, Brady. So etwas würdest du dir nie im Leben ausdenken.«
Er sah auf die Büroklammer. Er nestelte daran herum, aber sie wollte offenbar nicht so wie er. »Sie war schon tot. Ich konnte überhaupt nichts machen.«
»Ich weiß.«
Er sah zu ihr auf. »Es hätte überhaupt keinen Sinn gehabt, Hilfe zu holen. Sie war tot. Genau wie im Fernsehen, ihre Augen waren ganz weit auf und so.«
»Ich weiß.«
Er legte die Büroklammer hin und zog stattdessen den Strohhalm aus seinem Pappbecher. Er wickelte ihn um seinen Daumen.
»Wie steht es mit dem Mann, Brady?«
Er murmelte etwas.
»Wie bitte?«
»Ich kann ihn nicht zeichnen. Das ist total blöd. Ich habe es schon versucht, aber ich kann es irgendwie nicht.«
Fiona beugte sich vor und versuchte, möglichst ruhig zu klingen. »Du musst ihn nicht zeichnen, Brady. Hast du das etwa geglaubt?«
Er sah sie verwirrt an.
»Bist du deswegen weggelaufen?«
Er senkte den Blick und wickelte den Strohhalm wieder von seinem Daumen. »Ich muss ihn nicht zeichnen?«
»Du musst überhaupt nichts zeichnen«, sagte sie. »Das ist meine Aufgabe. Ich will nur, dass du mir von ihm erzählst.«
Er sah vorsichtig auf, und sie wusste, dass er Vertrauen zu ihr gefasst hatte. »Ich glaube, das geht.«
»Prima.« Sie spürte, wie die Spannung aus ihren Schultern wich, und griff nach ihrem Zeichenbrett. Sie lächelte Brady an und wurde im Gegenzug mit einem schmalen Lächeln belohnt. »Dann erzähl mir doch einfach, was du gesehen hast.«
Sie hatten einen Durchbruch erzielt. Das sah Jack Fiona sofort an, als sie aus seinem Büro kam. Sie verabschiedete sich von Brady mit einem lässigen »Bye«, aber ihr Gesichtsausdruck verriet Jack, dass sie einen Riesenschritt vorwärtsgekommen waren. Er schaffte es, sich zurückzuhalten, bis Sharon Brady und seine Mutter in den Aufenthaltsraum gebracht hatte, um die notwendigen Formulare auszufüllen.
Rasch folgte er Fiona zurück in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.
»Wir haben ihn«, sagte sie mit einem Grinsen.
»Bist du sicher?«
»Schau es dir an.« Sie deutete auf die Zeichnung auf seinem Schreibtisch.
Jack warf einen Blick darauf und sein Herz setzte einen Moment aus. »Ich werd verrückt.«
»Ich weiß.« Sie lächelte triumphierend. »Unheimlich, oder?«
»Bist du dir wirklich sicher? Kann es nicht damit zu tun haben, dass du unter dem Einfluss deines Gesprächs mit Lucy stehst?«
»Nein, ganz sicher nicht. Das habe ich immer im Kopf, wenn ich mit einem zweiten Zeugen spreche. Diese Zeichnung ist bestimmt nicht von Lucys Beschreibung beeinflusst, und Brady ist es auch nicht, er kennt sie ja überhaupt nicht. Es ist ein und derselbe Mann.«
Es war derselbe Mann. Er sah genauso aus wie Lucys Vergewaltiger, nur älter.
Jack pfiff durch die Zähne. »Er sieht haargenau aus wie auf deiner gealterten Zeichnung. Die Version, bei der du ihn dicker gemacht hast.«
»Zuerst dachte ich, ich traue meinen Ohren nicht. Brady konnte sich an die kleinste Einzelheit erinnern. Sieh dir die Nase an. Die Augen. Ich habe sogar eine Tätowierung!« Sie griff nach dem Zeichenblock auf dem Schreibtisch und schlug ihn auf.
»Machst du Witze?«
»Unser Mann trägt ein Hakenkreuz auf dem linken Unterarm.« Sie reichte ihm den Block. »Brady meinte zuerst, es wäre eine Spinne, aber als ich ihm ein paar Abbildungen zeigte, erkannte er das Hakenkreuz wieder.«
Jack starrte die Zeichnung sprachlos an. Es war ein ungewöhnliches Hakenkreuz, eines mit Pfeilspitzen an den Enden. Er konnte kaum glauben, dass Brady das aus der Entfernung so genau gesehen hatte. Es war fast zu schön, um wahr zu sein.
Und vielleicht war es das ja auch nicht. »Wie konnte der Junge das nur alles so genau erkennen?«
Fiona schüttelte den Kopf. »Er hat einfach Obacht gegeben. Und damit meine ich, wirklich genau Obacht gegeben.
Mein Gott, was würdest du denn tun, wenn jemand eine Leiche direkt vor deiner Nase ablegt? Brady saß in seinem Baumhaus fest und hatte die ganze Zeit fürchterliche Angst, ein Geräusch zu machen. Seiner Schätzung nach dauerte es ungefähr eine Viertelstunde, bis alles vorbei war. Die Nacht war offenbar gerade erst angebrochen.«
Jack starrte auf das stilisierte Nazisymbol.
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