Der Schachspieler
Wenn dir dein Feind das Messer an die Kehle hält, dann spring hinein und gib ihm nicht die Genugtuung, Angst zu zeigen. Es ist eine Sache der Kontrolle. Schaeffer zeigt uns den Stinkefinger – er lässt nicht zu, dass wir ihn fangen.«
»Nach dem Debakel mit Farris hatten wir Schaeffer natürlich im Visier … und plötzlich fügt sich alles zusammen. Aber Allan, irgendwie hat mich der Gedanke nicht losgelassen, dass es doch anders sein könnte. Ich lag nächtelang wach und stellte mir das Albtraumszenario vor, dass der Hurensohn noch frei herumläuft. Und jetzt zeigt sich, dass genau das der Fall ist.«
»Und mit einem Copycat haben Sie’s auch noch zu tun.«
»Der ist Gott sei Dank nicht mein Problem. Ich untersuche nur den ursprünglichen Fall und wollte mich noch mal mit Ihnen darüber unterhalten, was damals wirklich geschehen ist.«
»Diese verdammten Zalentines haben Cambridge zu einem Mekka für alle möglichen Gruftis gemacht. Adrien und Alain verfolgen den Zirkus wahrscheinlich amüsiert vom siebten Kreis der Hölle. Scharenweise pilgern diese Spinner in schwarzem Leder und weißer Schminke zu den Dorchester Towers, um einen Blick auf das Haus zu werfen, in dem die Zalentines wohnten. Nicht mal der Serienmörder Jeffrey Dahmer hatte eine so große Fangemeinde.«
»Ich hab eine von diesen Webseiten gesehen, auf denen sie als Helden verehrt werden. Ziemlich abartige Sache.«
Cady erzählte dem Kollegen aus Cambridge in aller Kürze, was sich in der vergangenen Woche zugetragen hatte: von seinem nächtlichen Besucher, seiner falschen Annahme bezüglich Eric Braun, was er über das erste Opfer – Bret Ingram in Minnesota – wusste, und dass der Chessman allem Anschein nach seinen Nachahmungstäter verfolgte.
»Warum zeigt er sich jetzt?«, fragte Sears. »Nach so langer Zeit?«
»Sein Rachefeldzug hatte rein persönliche Gründe. Es passt ihm nicht, dass ein anderer sein großes Werk ruiniert, das er zu Ehren von Marly Kelch geschaffen hat. Für ihn ist das so, als würde jemand der Mona Lisa einen Bart malen.«
»Sie müssten einen Weg finden, wie Sie sein ausgeprägtes Ego gegen ihn einsetzen und ihn anlocken können«, meinte Sears. »Aber ich glaube, Sie sind auf dem richtigen Weg. Der Chessman muss sich als Racheengel für Marly Kelch gefühlt haben. Wenn Sie in dieser Richtung weitersuchen, ergibt sich vielleicht etwas. Entscheidend ist, dass Sie’s mit einem ›Smart-E‹-Typen zu tun haben … und das ist natürlich ungünstig.«
»Smart-E?«
»Sie haben ja diese tollen Profiler in Ihrer Truppe, die Ihnen genau sagen, welches Klopapier der Täter benutzt – dreilagig oder vierlagig. Ich hab da eine einfachere Methode, die witzigerweise von dem Mann stammt, der das Profiling vor über 200 Jahren erfunden hat.«
»Wer?«
»Napoleon Bonaparte.«
»Was?«
»Kein Scherz. Bonaparte hat seine Soldaten in vier Kategorien unterteilt, und ich hab mir da ein bisschen was abgeguckt und den Gedanken auf Täter angewandt: schlauenergisch, schlau-faul, dumm-energisch und dumm-faul. Die meisten, mit denen ich’s zu tun habe, fallen in die letzte Kategorie: dumm und faul. Erst letzte Woche hat die Polizei in Cambridge einen jungen Kerl aufgegriffen, der einen Mazda Miata carjacken wollte. Der Wagen hatte ein ganz normales Fünfganggetriebe, und der Dussel konnte nicht mal schalten. Er fuhr einen halben Block mit dem ersten Gang, als ihn ein Streifenwagen aufhielt.«
»Ihr habt ja richtige Prachtexemplare bei euch in Cambridge.«
»Wem sagen Sie das. Die Dumm-Faulen sorgen wenigstens für ein bisschen Unterhaltung bei uns. Anders ist es mit den Dumm-Energischen, die sind echte Nervensägen, weil es hauptsächlich Politiker sind. Die Dumm-Energischen hätte Napoleon am liebsten in einer Reihe aufgestellt und erschießen lassen. Ich muss sagen, ich kann ihn verstehen.« Sears holte tief Luft, ehe er fortfuhr: »Aber Sie, mein Freund, Sie haben es mit einem Schlau-Energischen zu tun, einem Smart-E. Das sind die Schlimmsten.«
»Ich Glückspilz.«
»Und Ihr Smart-E scheint alle Hirnregionen zu nutzen. Gefühle sind seine Triebfeder. Was die Logik betrifft, hat er euch vom FBI ohnehin im Schachmatch geschlagen. Und auf seine Urinstinkte hat er sich auch verlassen, um seine Rache durchzuziehen und zu überleben.«
»Sie können einen aber auch aufmuntern, Allan.«
»Passen Sie gut auf, Cady«, sagte der Detective, bevor er auflegte. »Wenn der Kerl Sie das nächste Mal besucht, dann nicht, um
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