Der Schacht

bewusstlos. Kleine Brocken lösten sich aus dem Verputz. Glasscherben steckten in seinem Hinterkopf.
    Die schneckenartige Kreatur nieste, wobei der Revolver aus ihrer Brust katapultiert wurde und in eine halb geronnene Blutlache auf dem Boden schlitterte. Aus der Mündung stieg immer noch Rauch auf. Stallis wurde gegen die Innenwand gelehnt. Sein Körper verweigerte sich dieser Stellung und schwankte hilflos von einer Seite zur anderen.
    Das Ding mit der Krawatte war verwirrt und langsam. Es wusste, dass es der Bewohner dieses Zimmers sein sollte. Es wusste, dass das Haus es dazu bestimmt hatte, der Bewohner dieses Zimmers zu sein. Aber was wurde jetzt von ihm erwartet?
    Eine skelettierte Klaue erhob sich mit schlecht koordinierten Bewegungen und umfasste den beineren Griff des italienischen Klappmessers. Es betastete ihn so wie ein Teenager sein erstes Barthaar. Ja. Die Erinnerung an Verhaltensmuster war ein Hinweis.
    Es zog die Klinge aus dem Fleisch der Schulter. Ein saftiges, glitschiges Gleiten. Dann sägte es eine gezackte, triefende Linie von Ohr zu Ohr quer über den Schädel von Victor Stallis. Knochige Fingerspitzen bohrten sich hinein, umfassten die Lippen des blutigen Spaltes und zogen ihn weiter auseinander. Ein Haufen nasser Kringel wurde sichtbar.
    Das Ding konnte nicht denken. Seine Handlungen waren elementare, archaische Wogen der Erinnerung wie die Teile eines Puzzles auf einem chaotischen Haufen. Teile davon wollten sich zurückziehen in die feuchte Sicherheit der Tunnel. Andere Teile waren hungrig. Ein Teil war gesättigt und wurde von unbegreiflichen Albträumen geplagt – Bilder, die sich unmöglich assimilieren ließen, so seltsam und fremdartig wie telepathische Eindrücke von einer anderen Spezies.
    Ein anderer Teil von ihm wollte seine Augen zurück. Seine guten, scharfen, hassenden Augen.

21.
    Mit der Höhenangst hatte Jonathan keine Probleme. Auch nicht mit der Dunkelheit. Die engen Wände des Schachtes wirkten nicht bedrohlich auf ihn, weil er nicht an Platzangst litt. Der Eindruck von Eingesperrtheit war eine Illusion. Dieses Abseilen versetzte ihn zurück in seine Höhlenforscherzeiten, in denen er sich Abstiege heruntergezwängt hatte, die mit Tonmatsch überzogen und zentimetertief mit Fledermausscheiße bedeckt waren.
    Es erregte ihn, dass er sich auf so ein Abenteuer eingelassen hatte. Er fühlte sich bis ins Innerste lebendig und Herr seines eigenen Schicksals. Das war ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gehabt hatte, und er genoss es.
    Der Weg hinab war noch die leichteste Übung. Sein Bizeps und seine Unterarme konnten einen solchen Abstieg mühelos bewältigen. Jamaica sah zu, wie er sich von dem Sims des Badezimmerfensters hinabließ und seine gummibesohlten Stiefel gegen das geriffelte Metall stemmte. Er verlagerte sein Gewicht auf seine provisorische Sicherungsleine, und sie zog sich straff genug, dass er sich allein an ihr herunterlassen konnte.
    »Sachte«, beschwichtigte er. Jamaica stemmte sich mit ihrem Gewicht gegen das Seil.
    Er verankerte sich mit seinem linken Arm und fühlte mit der rechten Hand nach der nächsten Kletterschlinge. Fast augenblicklich rutschten seine Zehen von der nassen, rutschigen Verkleidung des Luftschachtes ab. Dies würde so etwas wie eine Reihe von kleinen Abstürzen von einer Schlinge zur nächsten werden … und die nächste war jetzt in Höhe seiner Knie.
    Trotz seines festen Griffes rutschte ihm das Kabel mit erschreckender Beschleunigung durch die behandschuhten Hände. Er fühlte die Luft, die ihm von unten entgegenströmte. Er krallte das Leder um die Kabelisolierung und kam zu einem Halt, der ihm die Lunge zusammenpresste, als er auf die nächste Schlinge traf. Durch seinen Schwung prallte er mit dem Gesicht auf die Wellblechverkleidung, und Sternchen flimmerten vor seinem inneren Auge. Sein Herz spielte verrückt und pumpte zu viel Blut durch sein Hirn, überflutete es mit einer Collage aus unangenehmen Gedanken an sein eigenes abruptes Ende.
    Er hing fest. Er pendelte hin und her. Er fühlte Blutstropfen aus seiner Nase auf die Oberlippe rinnen.
    »Jonathan!« Selbst ihr gedämpftes Wispern war in diesem Metalltunnel erschreckend laut.
    Die orange Isolierung des Kabels quietschte wie ein Galgen auf dem Fensterbrett, und ein Schauer von Farbkrümeln regnete Jonathan in die Haare. Er hielt die Augen fest geschlossen und versuchte, sich nach Gefühl zu stabilisieren.
    »Alles in Ordnung, mir gehts gut! – Psst!«
    Der rostige