Der Schacht
die Erinnerungen an ihre Demütigung neu zu durchleben, auch wenn es nur für den Moment war, in dem sie die Flasche in den Abfalleimer beförderte.
Er hatte zuletzt doch noch die Beherrschung verloren. Das ließ sich nicht mehr leugnen. Eine große Tür war zugeschlagen, und sie standen auf unterschiedlichen Seiten davon. Es war Zeit zu gehen. Nur ein Vollidiot – oder ein noch größerer Masochist, als er es war – würde darauf warten, dass die Ampel noch grüner wurde.
Eigentlich war diese Tat wirkungsvoll. Amanda würde nie wieder eine Weinflasche ansehen können, ohne an das zu denken, was sie sich eingebrockt hatte. Aber der Effekt war unerwarteterweise auch auf Jonathan zurückgeschlagen. Jetzt würde Wein ihn immer an das erinnern, was er ihr angetan hatte.
Und Bier erinnerte ihn daran, dass er keinen Wein mehr mochte.
»… vielleicht ein Drittel der Vorstädte im Osten und im Süden von Chicago sind das, was man hier eine trockene Gemeinde nennt, kannst du dir das vorstellen? In einem Laden an der Straße kannst du Alkohol kaufen, einen Block weiter ist das illegal. Die Bullen haben die Ausschanklizenzen verschärft und all so einen Scheiß. Angeblich hat das was mit ›öffentlicher Ordnung‹ zu tun. Eigentlich geht es aber um Kohle. Du weißt schon – die Schuldgefühle, die Behauptung, dass Alkohol gefährlich ist, das ist alles nur vorgeschoben. Das existiert nur auf dem Papier. Das, worauf sie wirklich geil sind, ist …«
»Kohle«, sagte Jonathan. Er konnte jetzt wieder reden. »Sie wollen dein Geld in ihren Taschen.«
»Ganz richtig. Hundert Punkte. Aber ich hatte noch nie wirklich eine trockene Gemeinde gesehen, bis ich in dieser Ecke des Erdballs gelandet bin.«
»Und was haben sie stattdessen? Wenn es keine Kneipen und keine Schnapsläden gibt, was machen die dann mit den ganzen leeren Geschäften und Häusern?«
»Da stehen Kirchen, mein Junge. Massen von Appartementhäusern Gottes. Jeden Sonntag glaubt man, man sei in einem pawlowschen Versuchskäfig bei all den Glocken, die um einen herum bimmeln. Das reicht aus, um einen direkt in die Arme von Dämon Alkohol zu treiben.«
»Und dazu muss man aus der trockenen Gemeinde heraus, um ihn zu kaufen, richtig?«
Bash grinste. Jonathan hatte selten einzelne Zähne gesehen, die so groß waren. »Jetzt bekommst du eine Ahnung davon, wie diese Gemeinden funktionieren, mein Sohn.« Er trat auf die Bremse und machte einen Schlenker, um einem Köter auszuweichen, der auf die Straße rannte. Nass, verfilzt, verfroren und ausgehungert warf der Hund einen panischen Blick auf den Van. Das Tier erinnerte Jonathan an den Mann in dem Busdepot. Vielleicht war dies der verlorene Schoßhund des Penners. Hunde nahmen oft die Verhaltensweisen ihrer Herren an …
Und schon wieder geht es mit dir durch. Krieg dich wieder ein.
Er hatte Bash noch nichts von Amanda erzählt. Er wusste schon jetzt, wie Bash auf das Thema reagieren würde: Du stehst auf diese Art von Jammerlappen, würde er sagen. Der gute alte Jonathan wird immer wieder weich und fängt dann an: Nein, du bist gar keine Nervensäge, mein Liebling. Das würde Bash sagen. Du fällst jedes Mal wieder drauf rein, würde er sagen. Und dann würde er vollmundig verkünden, dass er es schon lange aufgegeben habe, sich für jede Kleinigkeit schuldig zu fühlen. Schuld gibt es gar nicht, würde er sagen. Das kostest zu viel Nerven und bringt verdammt noch mal nichts ein. So war Bash.
Nicht über Amanda zu reden war eine andere Art von Flucht. Verdrängung konnte ein reinigender, ein bekräftigender Akt sein. Aber auch Feigheit – die Antwort eines Kindes auf ein Erwachsenenproblem.
Fahrzeuge, die sich über verschneite Fahrspuren bewegten, dröhnten durch die Nacht. Das Wasser verzerrte die vorbeiziehenden Straßenlaternen zu Lichtflecken.
Unbewusst hatte Jonathan begonnen, mit den Händen heftig an den Seiten seiner Hose zu reiben. Verschwindet, ihr verdammten Schuldgefühle. Seine Füße glühten in seinen neuen Stiefeln unter der geballten Kraft von Bashs Heizung.
Die Straßen, die an den Fensters des Kombis vorbeizogen, waren dunkel, düster und eisig. Der Wagen dröhnte voran, die Scheibenwischer quietschten. Bash hielt seine Augen auf der Straße.
Jonathan räusperte sich. Seine Kehle schien mit einer dicken Schicht Schleim verklebt. »Na ja. Wie heißen überhaupt die Viertel, in denen man Schnaps legal kaufen kann? Feuchte Gemeinden?«
»Hahaha. Ich sehe, du wirst es hier mögen.
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