Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
Vom Netzwerk:
Soweit ich das beurteilen kann, heißen sie in den Zeitungen ›sozial benachteiligte Stadtviertel‹. Die lassen ihre Übertragungswagen zur Divison Street rüberrollen und filmen da die Obdachlosen, wenn sie mal wieder betonen wollen, wie dringend wir etwas gegen den Niedergang der Innenstädte tun müssen.«
    »Also heruntergekommene Gegenden?«
    »So ziemlich«, Bash strich sich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe, als würde er ein Zähneputzen andeuten. »Weißt du, dass Penner, wenn sie erfroren sind, schwarz anlaufen? Es ist dabei völlig egal, welche Hautfarbe sie hatten, als sie noch am Leben waren. Ist schon komisch. Wie die Knochen an einem Ausgrabungsort. Jedes Jahr tauen im Frühjahr wieder Hunderte von denen auf- Leute, die so weit runtergekommen sind, dass sie sich Äthanol oder Möbelpolitur reinziehen, und die sich an irgendeiner Ecke abgelegt oder auf eine Bank an einer Haltestelle hingesetzt haben und die dann vom Schnee zugedeckt worden sind. Wenn der Schnee schmilzt, sieht man leere Klamotten in den Gullys schwimmen, wenn die Kanalisation voll ist. Einige von denen tauen einfach aus den Klamotten raus, die sie angehabt haben, und laufen mit dem Schmelzwasser ab.«
    Ein Blick in die Runde bestätigte, dass der Schnee hier wirklich fast alles bedecken oder auslöschen konnte. Jonathan sah alte, gestaltlose Dünen aus aufgeschobenem Schnee, Kotflügel ragten daraus hervor. In einigen Fällen hatte der Schnee die Autos von der Straße geschoben, wie ein Gletscher auf dem Vormarsch. Man konnte sich unschwer irgendwelche Leichen von Erfrorenen vorstellen, die unter diesen unbarmherzigen weißen Verwehungen eingeschlossen waren.
    Auf den Fahrbahnen lag grauer Matsch. Schwarzes Eis. Ölschillernde überfrorene Pfützen und das geriffelte Knirschen von Tausenden von Winterreifen. Scharfkantige Eiszapfen hingen von jedem Vorsprung und vertropften giftgetrübtes Wasser. Sie wuchsen zu Stalaktiten heran, brachen ab und fielen zu Boden, wo sie sich in die arktische Topografie einfügten, schmolzen und sich wieder in die Luft erhoben. Um wieder zu kondensieren und neue Eiszapfen zu bilden.
    »Wie zum Teufel kannst du hier leben?«, fragte Jonathan.
    »Man bleibt im Haus. Und trinkt eine Menge.« Bash nahm die erste von mehreren engen Kurven. »Es ist schon eine komische Erfahrung, die Einheimischen zu beobachten, wenn die Winterzeit beginnt. Die versuchen, so zu tun, als ob sich gar nichts verändert hätte. Was das angeht, sind die stur. Und so schlittern sie in ihren protzigen Karren in der Gegend herum und rutschen sich gegenseitig in die Autos, und die ganze Zeit über ändert sich ihr Gesichtsausdruck kein bisschen. So als sei das eine Prüfung Gottes, und es stände ihnen nicht zu, das zu begreifen oder etwas dagegen zu tun.«
    Bash hatte sich für die Nebenstraßen entschieden, weil die Stadtautobahn zu einem automobilen Albtraum geworden war, ein unübersehbares Spielzeugautochaos, nicht mehr eine ordentliche Reihe – Rücklicht an Rücklicht –, sondern eine verrückte moderne Neon-Skulptur: schwarzer Asphalt, der in einer Doppellinie aus dem Eisüberzug herausgefräst war, Signalbalken, die rosa und tiefrot blinkend vor den Schneewehen warnten; das wirbelnde Frostblau der Abschleppwagen; das blendende Licht der Autos, die in die falsche Richtung gerutscht waren. Auf der Straße war kein Durchkommen mehr. Und überall Weiß, das wie eine Plage vom Himmel herabrieselte, um die Menschen in die Irre zu führen, die dumm genug waren, unterwegs zu sein. Weiß, das alles zudeckte, ein gestärktes Leichentuch, die Unfarbe blutentleerter Überbleibsel, die visuelle Umsetzung des endgültigen Todes.
    Bashs Augen hatten das Chaos auf der Autobahn registriert, und er hatte es mit seinem üblichen Zynismus bedacht: »Wie ich schon sagte, die tun alle so, als gäbe es den Schnee gar nicht. Albern. Und … Ach übrigens, herzlichen Glückwunsch. Du hast gerade deine erste erfolgreiche Durchquerung des Stadtteils Russet Run hinter dich gebracht, ohne überfallen zu werden.« Seine Stimme verfiel in sein lebensechtes Rod-Serling-Imitat: »Und du hast es überlebt.«
    »Russet Run. Hört sich an, als ob man das kriegen würde, wenn man zu viele Bohnen isst.«
    »Das war deine erste trockene Gemeinde, mein Kleiner.«
    »So sehen die also aus. Ich habe schon bei mir gedacht, dass die Gegend irgendwo etwas Gespenstisches hat.« Hatte Jonathan zwar nicht, aber es hörte sich gut an.
    Die zusammengedrängten

Weitere Kostenlose Bücher