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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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überstand auch das und heiratete ein drittes Mal.
    Carl Rojas war Gemischtwarenhändler gewesen, und er hatte es in drei Jahrzehnten nicht einmal versäumt, pünktlich in seinem Laden zu stehen. Leukämie hatte ihn vor zehn Jahren ins Grab gebracht. Bryces Ältester, Robbie, hatte zwei Enkelkinder in die Welt gesetzt und war dann in den giftigen Flammen bei einer Explosion in einem Düngemittelwerk ums Leben gekommen. Seine Frau und die Kinder waren gut versorgt, das sagten wenigstens die Anwälte. James, der nach dem Vater von Bryce benannt worden war, war von einer Springmine in Vietnam erwischt worden. Die Hälfe von ihm blieb sofort im Dschungel, während die andere Hälfte sich noch dreißig Stunden in einem Feldlazarett ans Leben klammerte. Elvie hatte keine Ahnung, was aus dem mittleren Kind, Loris geworden war. Sie wusste nur, dass sie – so wie ihre Mutter – in ihrem Leben den einen oder anderen Ehemann überdauert hatte.
    Elvie konnte solche Details ihrer persönlichen Geschiche deutlich wiedergeben, je nachdem, wie genau es die höfliche Konversation gerade erforderte. Sie war völlig klar im Kopf. Keine Tumore, keine Schlaganfälle. Sie hatte bis zu ihrem
    62. Lebensjahr keine Brille gebraucht. Sie achtete auf ihre Ernährung und kochte meistens selbst. Die Beziehung zu Carl Rojas hatte sich in ihren späten Jahren unerwartet ausgezahlt: Frisches Gemüse hält gesund.
    Da es ihr nicht gelang, das Fenster zu öffnen, vermutete Elvie sofort gottlose Dinge in ihrem Leben. Statt herumzujammern und zu nörgeln, setzte sie sich hin und betrachtete die Dinge von allen Seiten … Bevor sie begann, andere Leute oder Dinge für etwas verantwortlich zu machen, wollte sie sicherstellen, dass das Problem nicht bei ihr lag.
    Die Fenster des Gebäudes waren große Flügelfenster mit Riegeln. Seit sie eingebaut worden waren, waren die obersten Fenster so oft und so dick mit Farbe übermalt worden, dass sie sich nicht mehr öffnen ließen. Wenn es zu warm wurde, dann dehnten sich die unteren auch schon mal und klemmten. Es war jetzt zwar tiefster Winter, aber nach dem Truthahnauflauf, den sie in der winzigen Küche ihres Appartements gekocht hatte, war die Luft stickig, und sie wollte lüften. Der Schnee tat Wunder für die Luft, die man atmete. Er war so reinigend. Darum war er auch so oft schon schmierig grau, wenn er am Boden ankam.
    Sie zerrte an dem Hebel, aber nichts passierte. Das Fenster rührte sich nicht von der Stelle. Sie holte sich das kleine Stemmeisen heraus, eines dieser speziellen Werkzeuge, die sich mit der Zeit ansammeln, wenn man jahrelang an einem einzigen Ort lebt. Und da stellte sie dann fest, dass die Einkerbung in der Fensterbank – der Ansatzpunkt für ihren selbst gemachten Hebel und das Ergebnis jahrelanger Erfahrung mit dem Problem des klemmenden Fensters – nicht mehr da war.
    Sie gab ein leise fragendes Geräusch von sich und fuhr mit dem Finger über die Fensterbank.
    Nichts. Es war, als sei die Fensterbank aufgearbeitet worden, abgeschliffen und perfekt lackiert. Ihr suchender Fingernagel glitt nach oben. Der Rahmen des Fensters bildete mit dem hölzernen Fensterflügel eine durchgehende Fläche.
    Ein unachtsames Auge würde das für schlechte Malerarbeit halten. Die Spalte, von der Elvie wusste, dass sie da sein musste, könnte einfach mit Farbe überpinselt und zugekleistert worden sein. Aber dies war zu perfekt. Jedes kleinste bisschen an dem Fenster und dem Rahmen war so wie immer, nur bildeten die beiden jetzt nicht mehr zwei voneinander getrennte Einheiten. Handwerklich solide Fenster wie diese wurde heute nicht mehr hergestellt, das wusste sie. Heutzutage waren dünne Schiebefenster in Alurahmen üblich. Fenster vom Fließband ohne Individualität, ohne Feinarbeit, ohne Stil, nur mechanische Serienfertigung. Perfektion ohne Persönlichkeit. Sie fragte sich, wovon die guten Handwerker, die in den 40er-Jahren noch selbstverständlich gewesen waren, heutzutage lebten.
    Auf Zehenspitzen sah sie sich den oberen Teil ihres normalerweise funktionierenden Fensters an. Der Messinggriff ließ sich problemlos bewegen, Probleme hatte es nur mit der dicken, klebrigen Billigfarbe gegeben, die auch jedes andere Detail des Gebäudes zukleisterte: stillos, völlig stillos. Elvie hatte geduldig das eklige Zeug weggekratzt, sodass der Riegel seine Aufgabe erfüllen konnte. Aber jetzt waren da keine voneinander getrennten Teile des Fensters mehr, die sich verschließen oder öffnen ließen. Die

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