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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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mit Kitt zugespachtelte Trennlinie, die den oberen vom unteren Teil abgrenzte, war verschwunden oder beseitigt worden. Manchmal war diese Spalte so lästig geworden, dass Elvie sie mit Zeitungspapier zustopfen musste, um den kalten Luftzug abzustellen. Dieses Problem existierte nicht mehr.
    Sie konnte das Fenster genauso wenig öffnen, wie sie ihre Wohnung vergrößern konnte, indem sie die Wände weiter auseinanderschob.
    Sie sah sich jede Oberfläche an, an die sie herankommen konnte. Sogar der Staub bildete einen gleichmäßigen Überzug, der einer unberührten Schneefläche glich. Diplomatisch schalt sie sich selbst dafür, dass sie nicht häufiger Staub wischte …
    Für den Augenblick besiegt, kehrte sie zu ihrem Schaukelstuhl zurück. Ihre Hände suchten den Trost ihres Rosenkranzes und des Kruzifixes. Nach einer Weile aß sie noch ein wenig von dem Auflauf, der bei Zimmertemperatur noch besser schmeckte als vorher. Sie hatte fast die Hälfte der Gewürze weggelassen, ohne das dadurch der Geschmack nachteilig beeinflusst worden wäre. Schließlich schaltete sie den Fernseher ein, und die Außenwelt zog wie üblich an ihren Augen vorüber.
    Es war erheblich ruhiger in diesem Teil des Gebäudes geworden, seit der Halbstarke über ihr ausgezogen war. Elvie war mehr als nur tolerant, sie glaubte an den Status quo und daran, dass man keinen Aufstand machen sollte, wenn man nicht über Gebühr provoziert wurde. Sie pflegte sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Auch an den Wochenenden, wenn es schon mal hoch herging. Die meisten der Bewohner waren jung, und die Wochenenden waren etwas für junge Leute. Sie hatte den Mieter über ihr ganze zwei Mal in ihrem Leben gesehen, und nie mit ihm gesprochen. Er war das, was man heutzutage einen Punk nannte. Für Elvie war ein Punk etwas völlig anderes als das, was man heute darunter verstand. Zu ihrer Zeit bezeichnete man jemanden wie James Cagney in White Heat als Punk, jemanden wie Richard Widmark in Kiss of Death. Bryce hatte diese Actionfilme geliebt, und er hatte ihr alles von ihnen erzählt. Während der Zeit, als die Bundesschnüffler durch Bryces Stammbaum und seine Hobbys schnüffelten – er hatte schließlich eine Ausländerin geheiratet –, da hatte er ihr erklärt, dass Marlon Brando und jeder großkotzige Bengel, der The Wild One kopieren wollte, definitionsgemäß ein Punk war: ein halbstarker Bengel.
    Heutzutage waren die Punks immer noch Bengel, aber sie sahen aus wie die Landetruppen eines bizarren Stoßtrupps von einem anderen Stern, die Kleidung hoch kompliziert und nach Tod riechend, die Augen metallisch und dumpf. Elvie hielt den Jungen von oben für rüde, aufgeblasen und vorlaut. Wahrscheinlich hatte er Angst vor menschlichen Kontakten. Für sie war das kein richtiger Punk.
    Er war meistens so gegen vier Uhr morgens nach Hause gepoltert, und Elvie war oft durch seine lauten Schritte wach geworden. Sie hatte dann beschlossen, dass sie eigentlich sowieso immer um diese Zeit aufstehen und zur Toilette gehen musste. Manchmal hörte sie auch Stimmen durch die Decke, die sich lautstark unterhielten. Vielleicht waren sie im Drogenrausch. Elvie konnte kein Wort verstehen; ihr Gehör war zwar so gut wie eh und je, aber die Art von Slang, die sie kannte, stammte aus einer anderen Zeit. Sie konnte hervorragend hören.
    Manchmal wurde das Gepolter von oben rhythmisch genug, um die staubige Lampenfassung zum Beben zu bringen, die von der Zimmerdecke hing. Sie dachte dann an Körperwärme, die sich gegenseitig anheizte, und wenn ein Stöhnen oder ein Keuchen hinabdrang, dann lächelte sie meist in sich hinein. Ein leerer Platz in ihrem Herzen, der meist vor sich hin schlummerte, war auf immer der Vorliebe für langen, gesunden Sex vorbehalten, die sie bei Bryce kennengelernt hatte. Es erregte sie ein wenig, wann immer sie vermutete, dass die Leute über ihr Sex miteinander hatten. In letzter Zeit hatten diese nächtlichen Erschütterungen aufgehört – Elvie bemerkte solche Veränderungen in der Ruhe ihres täglichen Lebens immer sofort.
    Der Junge, der sich selbst für einen Punk hielt, war weitergezogen. In Unterkünften dieser Art zogen sie immer weiter.
    Außer, so dachte Elvie, außer Leute wie ich. Es war eine weitere ihrer Aufgaben, dem Erscheinungsbild des Hauses eine gewisse Stabilität zu verleihen, und das tat sie auch gern. Sie wohnte hier länger als all diejenigen, die kamen und gingen, so wie Streichholzflämmchen in mondleeren Nächten.

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