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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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dämlichen Aufzug nie reparieren würde. Der Stinkekäfer der Velasquez tobte vor der Tür von 314 herum, prahlerisch aufstampfend, donk, donk, donk. Fetter kleiner Hosenscheißer. Musste jeder dieses Kopfschmerzgestampfe ertragen, nur weil Kinder einfach so gottverdammt dämlich waren, dass sie es nicht anders wussten? Die bewindelte Nervensäge erstarrte, um Cruz zu mustern, der ganz in schwarz gekleidet war. Sie standen sich Auge in Auge gegenüber.
    Das Blag floh schreiend durch die offene Tür von 314. Gut so. Cruz stellte sich vor, wie er sein Gaffertape an diesem kleinen Scheißer einsetzen konnte. Erst die Schnauze dieses Nebelhorns zukleben, dann die Beine zusammenbinden und dann das ganz Bündel in den Aufzugschacht, und sie alle könnten besser schlafen.
    Die freigeräumten Fußgängerwege, die die Kentmore nach Norden säumten, hatten sich wieder mit frischem weißen Schnee bedeckt. Zu dieser Tageszeit, wenn es keinen Verkehr mehr gab, konnte Cruz dem Winter beinahe etwas abgewinnen. Wirbelnde Böen verwehenden Schnees gaben der Straße einen Weichzeichnereffekt. Hässliche Gebäude wirkten plötzlich undeutlich und geheimnisvoll. Klobige alte Autos mit ihren verklumpten Rädern und Kühlern waren plötzlich unter einer glatten, fließenden Schicht ungetrübter Nicht-Farbe verschwunden. Weiß, so hatte Cruz gelernt, war das Fehlen jeder Farbe. In Gestalt von Schneefall bleichte es jede Identität aus, und im Fall der Kentmore Street war das gut so. Die Straßenlampen hatten einen blauen Schimmer erhalten, wie Eiscremhörnchen im Traumland.
    Er knirschte durch den Schnee mit betont weiten Schritten. In der Nähe der El kam er an einem Supermarkt mit einem 24-STUNDEN-SERVICE-Schild vorbei, obwohl der Laden um Mitternacht dicht machte. Aber was spielte das auch für eine Rolle, wenn man da zu keiner Zeit des Tages Bier kaufen konnte? Von der El bis zum Postamt war es immer noch ein Häuserblock. Die Unterführung war düster und feucht, die Steine mit Graffitti verziert. Cruz war das einzige lebende Wesen auf einer Straße, die von unbeleuchteten Häusern gesäumt war. An der ersten Querstraße brachte ihn eine Windböe fast zu Fall. Der Schnee, der auf ihn niederprasselte, war so kalt, dass er beim Kontakt mit seiner Haut nicht einmal mehr schmolz. Er war hart wie Sand oder wie extrem kleiner Hagel – so wie Glasstaub oder gemahlener Pfeffer. Seine Augen tränten.
    In der Unterführung schien es noch kälter, obwohl da kein Wind wehte. Die Geräusche hier waren hohl und dumpf. Er dachte wieder an den Geist, seinen imaginären ektoplasmischen Kumpel. Im Schutz der Unterführung knotete er die Bänder seiner Allwetterkapuze zusammen. Seine Ohren fühlten sich erfroren und spröde an.
    Das Postamt im Oakwood war in einem anheimelnd europäischen Stil gehalten, überall dorische Säulen und Marmorböden, geschnitzte Portale und echte schmiedeeiserne Gitter, die noch aus den Zeiten der Coolidge-Regierung stammten. Die Schalter waren mit Messing beschlagen, die Platten mühevoll mit handwerklich exakten Reihen von Nägeln mit Messingköpfen befestigt. Über den Bögen waren lateinische Inschriften, und die Kuppeldecken warfen die eigene Stimme weihevoll und orchestral zurück. Ein Raum der Götter … der jetzt als eines von Onkel Bauhaus’ Drogenverstecken herhalten musste.
    Cruz stieg vorsichtig die Treppen hoch. Als er das erste Mal hier gewesen war, war er ausgerutscht und hätte sich beinahe den Kopf auf dem Eis und dem Granit eingeschlagen. Die gewaltige messingbeschlagene Tür schwang pathetisch zurück und ließ einen Schub warmer Luft hinaus. Die Tür war so schwer, wie sie ausssah, und es kostete einiges an Kraft, um sie aufzustemmen.
    Hitze drang an seine Wangen. Als er die inneren Doppeltüren öffnete, sah er eine Frau in einem langen burgunderroten Mantel auf sich zukommen, mit einem Handschuh voller Post. Er zögerte eine Sekunde und beschloss dann, ihr die Tür aufzuhalten. Ihre Augen trafen einen Moment die seinen, mit einem zurückhaltenden Lächeln auf zusammengekniffenen Lippen, unverbindlich, aber die Höflichkeit anerkennend. Man wusste ja nie, was für Gestalten man um diese Zeit auf einem Postamt begegnen konnte.
    Sie hatte ein rosiges, katzenhaftes Gesicht, das von den Lagen eines offenbar selbst gestrickten Schals halb verborgen wurde. Ihre Stupsnase sah niedlich über die oberste Schalkante hinweg. Ihre Augen standen weit auseinander, helles Kornblumenblau, leicht hervorstehend. Das

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