Der Schacht
Kerl. »Ich konnte der Versuchung einfach nicht wiederstehen, mir die Eier abzufrieren, um einen fabelhaften Blick darauf zu erhaschen, wie alles im Schnee versinkt. Vielleicht bin ich aber auch nur der langsamste und gründlichste Einbrecher in ganz Chicago. Und man hat mich bisher einfach noch nie erwischt, weil ich das Zeug in die Wohnungen hineinbringe, statt es herauszuschleppen.« Seine Augenbrauen gingen nach oben, und er zuckte mit den Achseln. Sinn für Humor … oder vielleicht doch nicht?
Cruz beschloss, sich nicht mehr wie ein Arschloch zu verhalten. »So wie der Weihnachtsmann.« Jeder Bewohner war ein potenzieller Kunde. Dieser Typ sah angespannt genug aus, vielleicht wollte er sich ja einmal mit ein paar Krümeln Koks entspannen. »Sie ziehen also wirklich hier ein?«
»Ja. Appartement 207. Das bin ich.«
»Dann sind sie direkt unter mir. 307. Wenn ich zu laut einen drauf mache, dann kommen Sie einfach hoch und machen mit.«
»Ich werde Sie beim Wort nehmen.« Er verlagerte das Gewicht seiner Kiste auf die andere Hand.
»Sie haben schon die ganze Tour hinter sich? Haben Fergus kennengelernt und den ganzen Mist?«
»Oh ja.« Die Lippen des Neuankömmlings zogen sich hoch und entblößten die Eckzähne. Er rollte mit den Augen. »Ganz schön grausig. Ich habe kurzzeitig überlegt, ob der Typ vielleicht schon tot ist und den Verwesungsgeruch einfach mit dem ganzen Aftershave übertüncht.«
Cruz grinste: »Klappt nur nicht so ganz. Ich bin Cruz.«
»Jonathan. Nett, Sie kennenzulernen.«
Cruz verzog sein Gesicht zu einer belustigten Grimasse, so als sei er es nicht gewohnt, mit Leuten zu tun zu haben, die so lange Namen haben oder deren Namen so hochgestochen klingen. Sie schüttelten einander die Hände. Die Handschuhe klatschten ineinander und gaben ein furzendes Geräusch von sich.
»Brauchst du irgendwelche Hilfe mit dem ganzen Zeug, Jonathan?«
»Nein danke, ich bin schon fast fertig. Ich musste leider feststellen, dass der Fahrstuhl defekt ist.«
»Der ist immer defekt. Vergiss ihn einfach. Streich am besten auch sofort die Waschküche aus deinem Gedächtnis. Die ist wie ein Wartezimmer zur Hölle.«
Jonathan schnaufte. »Ich konnte mir nur um diese Zeit einen Wagen ausleihen, um meine Sachen hier herüberzuschaffen. Das ist auch ein Grund, warum ich um diese Zeit hier rein- und rausschleiche. Arbeitest du nachts oder so was?«
»In gewisser Weise. Ich bin ziemlich häufig noch spät auf.« Er sah Jonathan auf die Füße und bemerkte Reebok Hightops, die völlig durchweicht waren. Der Typ kam nicht von hier. »Eine ganze Menge Bücher und Papier und so ein Zeug. Arbeitest du in einem Büro?«
»In gewisser Weise.« Das Gespräch hatte sich schnell festgefahren. »Hör mal, ich beeile mich besser, damit fertig zu werden und ins Bett zu kommen. Ich darf um neun wieder zur Arbeit erscheinen. Wer weiß, der Wagen könnte mittlerweile schon im Schnee verschwunden sein. Cruz.«
Cruz sah zu, wie die grünen Augen erloschen, wie Computerbuchstaben, die ungeduldig blinken, bis Daten in das passende Feld eingegeben werden. Dieser Kerl, Jonathan, speicherte seinen Namen. Er trat zurück, um Jonathan vorbeizulassen und wischte sich dabei den letzten losen Schnee von seiner Bomberjacke, bevor der schmelzen und einsickern konnte.
Wenn Bauhaus sein Versprechen heute Nacht einhielt, dann konnte es schon passieren, dass der arme Jonathan vor dem Morgengrauen keinen Schlaf mehr finden würde.
»Wir werden uns wohl später noch sehen. Bis dann, Jonathan.«
Jonathan nickte noch einmal, und dann gingen sie ihre getrennten Wege.
Der Typ denkt wahrscheinlich, dass ich ein Idiot bin, dachte Jonathan, als er die Kiste im Kofferraum von Bashs Tojota verstaute. Beim Ausräumen hatte er versehentlich eine von Bashs Aktenkisten mitgenommen. Wie trottelig. Jetzt musste die wieder zurück. Damit wäre sein Umzug, soweit das einer war, erledigt.
Er hob die beiden letzten Kisten dieser Fahrt auf, hauptsächlich Sachen, die er bei Rapid O’Graphics hatte mitgehen lassen, und machte sich wieder auf den Rückweg zum Eingang an der Garrison Street. Halb im Spaß dachte er bei sich, dass dieser Cruz so aussah, wie man sich einen Drogendealer vorstellte.
9.
Mario Velasquez hörte, wie der böse Mann zurückkam und versteckte sich.
Das wichtigste Ereignis in Marios bisher so kurzem Leben von zwei Jahren war die jüngste Beförderung von der Krabbelphase zu einer neuen beängstigend aufregenden Form der Fortbewegung
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