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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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herum. Die Krallen beschleunigten auf dem Teppich, und vergammelte Fasern flogen hinter ihr her. Bei ihrem eleganten Tempo war Marios stolpernder Galopp keinerlei Bedrohung. Sie sauste um die Westecke des Flurs.
    Weg!
    Mario versuchte, die Kurve in vollem Galopp zu nehmen, aber sein hoch liegender Schwerpunkt gewann die Oberhand, und die Verfolgung endete abrupt mit einem Klonk, als er zu Boden fiel, die Handflächen flach auf dem Boden, die Stirn auf den Filz knallend. Lose sitzende Tränen wallten in seinen großen braunen Augen auf. Er sog den Atem zu etwas ein, das ein Schrei von historischem Ausmaß werden sollte. Mario war gefallen.
    Er zögerte.
    Eine Tür der Eisbox im nächsten Flur hing offen in den Angeln. Normalerweise waren sie zugenagelt und übergestrichen. Mario war es gewohnt, sie geschlossen zu sehen. Er vergaß seine angestoßenen Knie und die unwesentlichen Schmerzen. Aus dem geplanten Geschrei wurde ein glucksendes Gekicher teuflischer Freude. Er kam stolpernd auf die Füße und donnerte auf sein neues Ziel zu. Die gato musste da drin versteckt sein. Dumme gato.
    »Mario! Mario, donde esta?«
    Mist. Sein Plan war schon aufgeflogen. Mama konnte nicht wissen, dass er gerade um die Ecke war. Als Nächstes kam jetzt die übliche mütterliche Nervenkrise. Als sie Marios Namen erneut rief, war das schneidend.
    Die gato wäre in Sekunden verloren, wenn Mario sie nicht aus ihrem Versteck herauszerren konnte. Er wusste aus Erfahrung, dass der Schwanzteil beim Katzenziehen am besten funktionierte. Das war so eine Art fellbesetzter Koffergriff. Man konnte es fast nicht kaputtmachen. Fast nicht.
    Sein folgendes Kreischen war siegesgewiss. Er zog die unterste Eisboxtür auf. So, Pelzball, jetzt habe ich dich, und jetzt musst du dir ein bisschen Gequäle gefallen lassen, weil du weggelaufen bist!
    Die gato versteckte sich nicht da drinnen.
    Marisole Velasquez wusste, dass es eines der unvermeidlichen Risiken einer Mutterschaft war, ein Kind unbeaufsichtigt zu lassen, während man das andere rettete. Baby Eloisa lag gut verschnürt auf der Couch und versuchte, sich einen Schnuller bis zum Anschlag in den Mund zu schieben, während ihre fetten Beine wie Antennen in der Luft herumwedelten. In den paar Augenblicken, die es dauerte, den verschollenen Mario wieder einzusammeln, würde sie nicht auf den Boden rollen. Wahrscheinlich nicht. Falls sie es doch tat, würde das ganze Gebäude das Ereignis in vollster Lautstärke mitbekommen, aber im Augenblick war Mario nun mal wieder abgehauen und musste eingefangen werden. Marisole konnte ihren Erstgeborenen wie ein Bluthund verfolgen, wobei sie immer seinem wahrscheinlichsten Fluchtweg nachspürte, geleitet vom siebten Sinn einer Mutter. Sie rief weiter seinen Namen. Der Ton in ihrer Stimme deutete an, dass er für seinen eigenmächtigen Ausflug den Arsch versohlt bekommen würde.
    Sie lief in den Korridor hinaus und zog fettige Kochdünste hinter sich her. Sobald sie zur Tür heraus war, zog Klein-Eloisa eine Grimasse und füllte ihre Windel mit Baby-Essenz, sofort eine doppelte Portion. Eloisa lächelte zahnlos bei diesem plötzlichen Mehr an Wärme. Sie freute sich, dass sie ihre Mutter so auf Trab halten konnte.
    Marisoles dritte Schwangerschaft war schon so weit fortgeschritten, dass sie die Frau behinderte, als sie um die Korridorecke flitzte. Marisole musste sich an der Wand festhalten. Sie war schon außer Atem und keuchte. Eine Stimme aus 320 brüllte los, dass die da draußen die Schnauze halten sollten. Auf solche Forderungen reagierte Marisole fast so gut wie nie. Für sie stand das auf der gleichen Stufe wie Straßenlärm – es war etwas, das man ignorierte. Wenn Bauarbeiter hinter einem herpfiffen und gröhlten, beachtete man die ja auch nicht. Hinter Marisole hatte schon lange niemand mehr hergepfiffen.
    Schweiß, der zum größten Teil noch von der Wärme in der Küche herrührte, stand in kleinen Tröpfchen auf ihrem Nacken und ihrer Stirn. Sie rief noch einmal. Aber nur die ersten zwei Silben des Namens von ihrem abgängigen Sohn kamen ihr über die Lippen, bevor sie den einzelnen kleinen Turnschuh sah. Er lag auf der Seite neben einer der unbenutzten in die Wand eingelassenen Eisboxtüren.
    Die Schuhbänder waren immer noch zu einer Schleife gebunden.
    Hinter ihr, in 314, musste Eloisa jeden Moment zu schreien beginnen.
    Marisole rannte zu dem Schuh, so schnell es ihr kugelförmiger Bauch eben zuließ, und erstarrte, als sie die Blutflecken auf dem

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