Der Schacht

wieder hochgerissen. Er sah das kannibalische Grinsen seines Angreifers. »Ich möchte, dass du dich an das hier erinnerst, du kleiner Mistkerl.«
    Cruz versuchte, mit einem Ausfallschritt freizukommen, aber es war, als versuche er gegen eine Fernsteuerung anzukämpfen. Moby hielt seine Handgelenke in einem Griff wie eine Müllpresse.
    Er stieß Cruz zur Seite und trat ihn dann in die ungeschützte Armbeuge. Der Schmerz war unglaublich. Er fühlte, wie die Schulter ausgekugelt wurde, und ihm wurde schwarz vor Augen. Knacks, wie ein zerbrochener Zweig.
    Die Gefangenen tobten, fluchten und grölten, als der wachhabende Officer und vier andere Polizisten in die Zelle stürmten. Jetzt war jeder wach.
    Cruz schwebte in der Luft. Er sah, wie der Betonfußboden auf ihn zukam, um sein Gesicht zu knutschen. Ein weiterer Zweikampf unter Gentleman, der nicht nach den Regeln des Marquis von Queensbury abgelaufen war. Wenn er nur ein paar nasale Aufputschmittel gehabt hätte, dann hätte er gewonnen.
    Die Zelle dreht sich um ihn. Wenigstens war ihm jetzt nicht mehr kalt.

14.
    Jonathans Pumpe hämmerte und bollerte gegen seine Rippen.
    Er hatte Probleme beim Luftholen. Er war aufgeregt. Den Hörer aufzulegen glich einem Abenteuer.
    Die kalte Luft erschien ihm nicht arktisch, nur frisch. Trotz des Umzugs, der Bullen und der späten Stunde war jetzt alle Müdigkeit von ihm abgefallen, wie fortgeblasen. Erleichterung: Er fühlte sich gut – zum ersten Mal, seit er in Chicago aus dem Bus gestiegen war. Chicago – die Stadt der Alkoholschmuggler und der neapolitanischen Kniescheiben-Zertrümmerer, die Stadt von Upton Sinclairs Fleischhauern, die Stadt der faschistischen Bürgermeister und von Dillinger, Speck und Gacy. Und dann dieser Schnee, die alles verschlingenden, erstickenden, blendenden nassen Teufelsklumpen alabasterner Kälte, die sich vom Nachthimmel abseilten, um die Farbe aus der Welt zu saugen und sie in die täuschende Empfindungslosigkeit einer tödlichen Injektion zu kleiden. Die Kälte, die die Stadt in ein Gewand des Todes wickelte und sie darin würgte, bis endlich auch der kalkweiße Niederschlag die Schwärze und den Gestank der Stadt annahm.
    Aber irgendwie sah sich Jonathan jetzt in der Lage, diese endlosen Dünen zu ertragen, die nahtlos die Autos und die Telegrafenmasten und die Straßen unter sich begruben, und sich sogar gut zu fühlen. Es gab einfach Zeiten, wo sich alles so einfach ändern konnte.
    Er fühlte sich einfach nur gut – denn er hatte reagiert. So einfach war das. Eigentlich neigte er eher zum Reden, nicht zum Handeln. Er redete immer alles in Grund und Boden, wie Amanda zu sagen pflegte.
    MR HAPPY.
    Eine aufgekratzte weibliche Stimme hatte ihn angewiesen, bis zum Morgen des folgenden Tages zu warten. Er würde dann genügend Geld erhalten, um die Kaution für Cruz bezahlen zu können. Er würde dafür großzügig entschädigt werden. Die Stimme nannte es einen Gefallen. Und dann hörte Jonathan nur noch eine tote Leitung.
    Es klang alles nach konspirativen Treffen und Film-noir- Intrigen. Die Glut seiner Imagination wurde mit neuem Sauerstoff angeblasen, und er fühlte ein erregendes Gefühl von Rache, Rache an den Vandalen von der Oakwood Police, die ihn ohne zu zögern in einen Topf mit ihren anderen Kriminellen geworfen hatten. Es war denkbar, dass er nur einen Millimeter daran vorbeigeschrammt war, die Nacht händchenhaltend mit Cruz in einer Zelle zu verbringen.
    Aber jetzt stand er im Schnee, immer noch frei, und fühlte den Druck von Verantwortung und die plötzliche, aber angenehme Solidarität der unterdrückten Klassen.
    Jamaica; so hatten die Bullen die Frau genannt, die bei Cruz war. Ihr Bild taute Jonathans Verstand auf und erwärmte seine Gedanken. Er dachte an sie, als er durch den Eingang der Garrison Street kam … und so war es schon fast ein Schock, als er sie in natura sah, direkt vor sich. Sie saß auf den Stufen in der Eingangshalle, wo all der Schrecken begonnen hatte. So wie es aussah, wartete sie auf Jonathan, während das Licht den Himmel weit im Osten zu erhellen begann.
    Die Nacht war nicht gut mit ihr umgegangen. Ihr Bild in Jonathans Erinnerung zeigte sie mehr sexy, weniger abgespannt, eher die abgebrühte, coole Sirene der Großstadt und nicht so sehr die verschreckte Frau, die zu wenig Schlaf und zu viel von den falschen Drogen bekommen hatte. Man sah es ihr an den Augen an. Ohne das strategische Make-up hatten sie sich in ihre Höhlen zurückgezogen und