Der Schädelring: Thriller (German Edition)

Dr. Forrest.
    Snead.
    Julia schwankte, als ob man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Sie erkannte ihn nun. Er war eine gealterte Version des Polizisten in den alten Zeitungsfotos.
    Das war Snead, der Mann, den sie in Gedanken in ein Monster verwandelt hatte. Hier stand sie dem Mann gegenüber, von dem sie glaubte, dass er satanische Morde verheimlichte, der das Verschwinden ihres Vaters nicht gelöst hatte und der sie von Memphis aus bis in diese kleine Stadt in den Blue Ridge Bergen verfolgte.
    Snead streckte ihr die Hand entgegen und sie bemerkte, dass das oberste Glied des kleinen Fingers fehlte. Der Stummel war zu einer roten Narbe verheilt. Sie trat einen Schritt zurück.
    „Sie sind also Julia“, sagte Snead ohne Anflug eines Gefühls. „Ich habe mich immer gefragt, was für eine Frau aus dem Kind geworden ist.“
    „Was machen Sie hier?“
    „Ich habe mich entschlossen, den Fall selbst zu bearbeiten“, sagte Snead. „Verletzung der Privatsphäre ist ein sehr schlimmes Vergehen, was Sie sicher aus erster Hand wissen. Ich will dafür sorgen, dass die richtige Person verurteilt wird.“
    Julias Wut überwältigte für den Moment ihre Angst und Verwirrung. „Was meinen Sie mit der richtigen Person? Gestern wurde der Kerl verhaftet. Sie haben die Aussagen von Walter Tripplett und von mir.“
    „Der Verdächtigte erzählt eine andere Geschichte. Er behauptet, dass Herr Tripplett in Ihrem Haus war.“
    „Und Sie glauben ihm?“ Julia wandte sich an Dr. Forrest um Hilfe, aber die Therapeutin faltete die Arme und sagte nichts. „Der Kerl gab zu, dass er angestellt wurde, meinen Verlobungsring zu stehlen und mich zu belästigen.“
    „Angeblicherweise. Aber Herr Tripplett ist selbst durch einige – sagen wir mal Verdächtigungen – belastet. Wir müssen die Sache genauer untersuchen.“
    „Warum hat dann Ihre Abteilung im Haus nicht nach Fingerabdrücken gesucht?“
    Snead lächelte. Seine Lippen gaben ihm das Aussehen eines Reptils, das soeben eine schmackhafte Beute verschluckt hatte. „Wie wollen Sie wissen, dass wir dies nicht getan haben?“
    „Jemand war wieder vor meinem Fenster gestern Abend, gerade nachdem ich mit Ihnen am Telefon gesprochen habe, Dr. Forrest.“
    Die Therapeutin runzelte die Stirne. „Sie haben sich dies womöglich eingebildet. Sie wissen ja, dass Paranoia eine der Nebenwirkungen einer nicht spezifischen Panikstörung ist.“
    „Nein. Es hat sich zugetragen. Er sagte ‚Er besitzt dich‘.“
    Snead und Dr. Forrest schauten einander an. Dann sagte Snead, „Haben Sie Beweise?“
    „Vielleicht könnten Sie nach Fingerabdrücken oder sonst etwas suchen. Ich weiß es nicht. Ich habe schließlich keine Videokamera laufen lassen.“
    „Weshalb haben Sie solche Angst, Julia?“ fragte Snead.
    Sie starrte auf die beigen Rundungen im Teppich. Sie erinnerte sich an etwas, dass James Whitmore ihr in Memphis erzählt hatte. Polizisten vergaßen nie die Fälle, die sie nicht lösen konnten. „Weshalb sind Sie mir aus Memphis gefolgt?“
    „Ich bin Ihnen nicht gefolgt“, sagte Snead. „Ich war bereits hier.“
    Vor ihr? Dann musste er ihre Standorte verfolgt haben. Hatte Elkwood eine Verbindung mit dem Verschwinden ihres Vaters? Obschon Dr. Forrest Julia überzeugt hatte, dass ihr Vater ein schrecklicher Mann war, der sie missbraucht hatte, möchte sie dieses Rätsel ihrer Vergangenheit unbedingt lösen. Sneads Interesse an ihr war jedoch noch ein dunkleres Rätsel.
    „Ich bin mit Dr. Forrest befreundet“, fuhr Snead fort. „Wir sind zusammen aufgewachsen. Und ich führte mehrere Gespräche mit ihr wie auch mit Dr. Lanze, Ihrem Therapeuten in Memphis. Ich dachte, wenn ich mir mehr Klarheit über Sie beschaffen könnte, würde mir dies helfen, das Verschwinden Ihres Vaters zu lösen. Zudem war ich neugierig, welche Wirkung diese Tragödie auf Sie hatte.“
    „Ich dachte, dass die Informationen zwischen Arzt und Patienten vertraulich seien.“ Sie warf Dr. Forrest einen anklagenden Blick zu. Die ältere Frau berührte ihren Unterleib, als ob sie Julia an das eingeritzte Pentagramm erinnern wollte.
    „Ein Arzt kann eine Diagnose mit jemandem teilen, Julia“, sagte Dr. Forrest. „Was wir nicht tun dürfen, ist Transkriptionen oder spezifische Ereignisse oder Geständnisse aus der Therapie weitergeben.“
    Das klang nicht nach etwas, das Julia je gehört hatte, obschon das meiste ihres rechtlichen Wissens aus der Fernsehserie „Law and Order“