Der Schatten des Chamaeleons
übelgenommen, dass er auf ihre Annäherungsversuche nicht eingegangen ist.« Sie hielt kurz inne. »Es sieht wirklich aus, als wäre er ständig in Streitereien verwickelt, aber ich glaube nicht, dass dieses Bild richtig ist. Zugegeben, die letzten vierundzwanzig Stunden waren schlimm, aber dass er zu mir gekommen ist, spricht doch dafür, dass er sich dessen bewusst ist und nicht möchte, dass es so weitergeht.«
»Wieso glauben Sie, der Superintendent hätte das nicht verstanden?«
»Zu viele negative Assoziationen. Schlägereien - Streitereien - keine Lust auf Sex mit einer entgegenkommenden Frau - Flucht zur Psychiaterin. Wäre ich an der Stelle Ihres Chefs gewesen, ich hätte die näherliegenden Schlüsse gezogen. Immerhin scheint er gemerkt zu haben, dass Charles so leibfeindlich ist, dass er sich langsam zu Tode hungert.«
Beale erinnerte sich des mageren Körpers. »Tut er das absichtlich?«
Susan schnippte ihre Zigarette aus dem Autofenster. »Das weiß ich nicht, aber wenn Sie um etwas beten wollen, dann beten Sie darum, dass wir morgen nicht Charles’ Leichnam finden.«
Die Ampel schaltete auf Grün, aber Beale reagierte nicht. »Ist das Ihr Ernst?«
»Hängt davon ab, was er an Reserven hat.«
Beale fuhr los, als hinter ihm jemand die Lichthupe betätigte, lenkte den Wagen aber gleich hinter der Kreuzung an den Bordstein. »So etwas kann ich nicht so stehen lassen, Dr. Campbell«, sagte er und wandte sich ihr zu. »Wenn Ihre Sorge berechtigt ist und er so stark gefährdet ist, wie Sie andeuten, gebietet mir die Pflicht, nach ihm suchen zu lassen.«
»Darum fahren wir ja zum Bell «, versetzte sie. »Polizisten wird er aus dem Weg gehen, wo er kann - aber ich glaube, er wird mit Jackson sprechen wollen.«
Der Inspector griff kopfschüttelnd in seine Tasche, um sein Handy herauszuholen. »Wie soll sie ihn finden? Er kann inzwischen weiß Gott wohin marschiert sein.«
Susan legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn vom Telefonieren abzuhalten. »Ich habe einen Verdacht, wo er sein könnte«, sagte sie. »Geben Sie Jackson wenigstens eine Chance.«
»Sie haben eine Menge Vertrauen zu dieser Frau, Dr. Campbell.«
»Nicht halb so viel wie zu Charles«, murmelte sie.
13
Jackson stellte ihren Wagen am Ende der Caroline Street hinter dem Drury-Lane-Theater ab, nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und ging zu Fuß Richtung Aldwych. Sie kannte die beiden Pubs auf der rechten Straßenseite, das Henry Fielding und das Pepys Tavern , aber beide waren mitten im Straßenblock. Weit und breit kein Gitter, dachte sie grimmig, überzeugt, Hirngespinste zu jagen. Susans Angaben waren äußerst vage - eine Kneipe in der Caroline Street und daneben eine schmale Lücke zwischen den Häusern, mit einem Gitter davor . Jackson konnte sich nicht vorstellen, dass es eine solche Baulücke in diesem Teil der Stadt gab, wo ein einziger Quadratmeter Zehntausende kostete.
Um ein Uhr morgens war diese Gegend von Covent Garden völlig verlassen, wenngleich auf dem Aldwych zwischen Strand und Fleet Street noch reger Autoverkehr war. Die Theater, Pubs und wenigen Restaurants hatten längst geschlossen, Jackson hatte die Straße ganz für sich. Bei jedem senkrecht aufragenden Schatten, der im Schein der Straßenbeleuchtung auf eine Hausmauer fiel, knipste sie die Taschenlampe an, aber stets waren die Gebäude lückenlos miteinander verbunden. Frustriert überquerte sie die Straße und ging auf der anderen Seite, die Taschenlampe schwenkend, wieder zurück. Nichts.
Abgesehen von den beiden Pubs, konnte sie auch nichts entdecken, was die entfernteste Ähnlichkeit mit einer Kneipe hatte.
Eine der Gaststätten hatte ihre Fenster diskret mit Vorhängen abgeschirmt, aber wenn man nach dem Namen gehen konnte - Bon Appetit -, war das eher ein Speiselokal als eine Kneipe. Auf das Dach ihres Wagens gestützt musterte sie ein leerstehendes Gebäude, das gerade renoviert wurde. Zwischen ihm und dem Nachbarhaus zur Rechten klaffte nicht die kleinste Lücke, aber es stand an der Ecke Caroline und Russell Street, und auf dem verwitterten Traufbrett über den weiß getünchten Fenstern war eine kaum noch erkennbare Inschrift, die man mit etwas gutem Willen als Giovannis Bar & Grill entziffern konnte.
Ohne viel Hoffnung bog Jackson in die Russell Street ein und ging an dem Gebäude entlang, wo weitere weiß getünchte Scheiben das Licht ihrer Taschenlampe spiegelten. Die Gebäudelücke, die sie schließlich entdeckte, war knapp einen
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