Der Schatten des Chamaeleons
Meter breit und schien überhaupt keinem Zweck zu dienen, außer vielleicht den wenigen Fenstern im oberen Stock einen Schimmer Tageslicht zu gönnen. Davor war ein Eisengitter mit Stäben von gut zwei Metern Höhe in einem Abstand von je fünfzehn Zentimetern, allerdings ohne eine Querstange in der Mitte, auf die man hätte steigen können. Das Gitter versperrte den Zugang zu einem schmalen, etwa zwanzig Meter langen türlosen Korridor mit einer Backsteinmauer am Ende. Benutzt zu werden schien er nur als Deponie für Zigarettenstummel; ganze Haufen lagen ekelhafterweise gleich hinter dem Gitter.
Jackson trat nach links und hielt die Lampe so, dass sie die Gasse diagonal ausleuchten konnte. Der Strahl war nicht stark genug, um auf den Backstein ganz hinten mehr als einen hellen Fleck zu werfen, aber als sie ihn die Seitenmauer entlanggleiten ließ, konnte sie einen Knick in der Wand erkennen. Man musste kein Genie sein, um zu erraten, dass man auf diesem Weg zur Küche von Giovannis Bar gelangte.
Ebenso wenig musste man ein Genie sein, um den Sinn und Zweck des Gitters zu verstehen. In den vorangegangenen drei Jahrhunderten, als Covent Garden noch Blumen-, Obst- und
Gemüsemarkt gewesen war und Arbeitskraft billig zu haben, hatte das Viertel keine Ruhezeiten gekannt. Die frischen Waren trafen schon in den dunklen Stunden des frühen Morgens ein, um im Lauf des Tages an den Ständen feilgeboten zu werden. Tavernen und Bordelle blieben rund um die Uhr geöffnet, Theaterbesucher und Opernliebhaber strömten zu Matineen und Abendvorstellungen herbei. Hätte sich da jemand unbefugt in einen Hof oder eine Gasse gewagt, er wäre sofort bemerkt und in die Schranken gewiesen worden.
Jetzt, da der Markt umgezogen war und nur noch Touristen tagsüber in dieses Viertel kamen, hätte höchstens ein Dummkopf sich damit begnügt, seinen Hinterhof mit einem schlichten Holztor abzusperren, das nachts für jeden Einbrecher mit Leichtigkeit zu knacken gewesen wäre und ihn unerschwingliche Versicherungsprämien gekostet hätte. Wie, fragte sich Jackson, während sie das Gitter musterte, war Acland da ohne Hilfe hinübergekommen? Immer vorausgesetzt, er war überhaupt hier.
»Charles!«, rief sie. »Sind Sie hier? Ich bin’s, Jackson. Susan hat mich geschickt. Kann ich mit Ihnen sprechen, bitte?« Keine Antwort. »Ist überhaupt jemand hier?«, rief sie dann. »Ich bin nicht von der Polizei. Ich suche nur einen Freund.« Sie richtete die Lampe suchend auf die rechte Seite und glaubte etwas Weißes aufleuchten zu sehen. Ein Gesicht?
»Ich suche nach einem Freund von mir«, rief sie lauter. »Würden Sie mir helfen? Es ist ein junger Mann mit einer Augenklappe.«
»Wer sind Sie?« Die Stimme war brüchig und rau von Nikotin und Alkohol.
»Mein Name ist Jackson. Ist er hier bei Ihnen?«
»Kann sein.«
»Würden Sie ihn bitten, mit mir zu reden?«
»Ich frag, aber das heißt nicht, dass er ja sagt.« Es folgte eine lange Stille. »Er sagt, er kommt nicht raus. Sie sollen reinkommen.«
»Na klasse!« Sie ließ den Lichtstrahl über die Gitterstäbe wandern. »Wie soll ich da ohne Hilfe rüberkommen? Gibt’s da einen Trick?«
Sie hörte leises Lachen. »Wenn man dünn ist, tut man sich leichter, junge Frau - aber das sind Sie wohl nicht, so wie Sie den Eingang blockieren. Die Stäbe ganz außen sind mit Bolzen an den Mauern festgemacht. Wenn Sie da die Fußspitzen aufsetzen, geht’s vielleicht - aber geben Sie Obacht bei den Spitzen.«
Jackson schimpfte leise vor sich hin, während sie die zweieinhalb Zentimeter breiten Nieten musterte, mit denen das Gitterwerk in den Mauern verankert war. Selbst mit nackten Füßen würde sie Mühe haben, für ihre Zehen sicheren Halt zu finden, und die ornamentalen Speerspitzen über der oberen Querstange behagten ihr gar nicht. Dennoch bückte sie sich, um ihre Stiefel aufzuschnüren. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?«, rief sie. »Könnten Sie herkommen und die Lampe halten, damit ich sehen kann, was ich tue?«
»Aber geben Sie mir nicht die Schuld, wenn Sie runterfallen.«
»In Ordnung.« Sie langte nach oben, um ihre Stiefel über die beiden mittleren Spitzen zu stülpen, schlüpfte dann aus ihrer Jacke und rollte diese fest zusammen, um damit die restlichen Spitzen auf der linken Seite zu bedecken. Eine Gestalt näherte sich vom Ende des Korridors, und ihre Lampe beleuchtete kurz ein bärtiges Gesicht, ehe sie sie zwischen den Gitterstäben hindurchreichte. »Danke.«
Das Licht
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