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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Ich konnte nur antworten: »Ist es wirklich Agilus?«
    »Natürlich.« Die Stimme meines Klienten war eine Oktave tiefer als die seiner Zwillingsschwester, wenn auch nicht so gefaßt. »Du hast immer noch nicht verstanden, was?«
    Ich konnte nur den Kopf schütteln.
    »Das war Agia im Laden. Als Septentrion verkleidet. Sie kam durch den Hintereingang, als ich mit dir sprach, und ich gab ihr ein Zeichen, als du dich nicht einmal mit dem Gedanken befassen wolltest, das Schwert zu verkaufen.«
    Agia erklärte: »Ich konnte nicht sprechen – du hättest meine Stimme als Frauenstimme erkannt – aber der Harnisch verbarg meine Brüste und die Panzerhandschuhe meine Hände. Wie ein Mann zu gehen ist viel einfacher, als die Männer glauben.«
    »Hast du dir das Schwert schon mal angeschaut? Der Griffzapfen sollte eine Signatur tragen.« Selbst jetzt noch hob Agilus die Hände, als wollte er es ergreifen. Agia fügte mit tonloser Stimme hinzu: »Er hat eine. Bei Jovinian, ich hab's im Gasthaus gesehen.«
    Hoch in der Wand hinter ihnen befand sich ein kleines Fenster, durch das mit einemmal die Sonne schien, als wäre ein Dachgiebel oder eine Wolke gewichen, und die beiden in ihrem Licht badete. Mein Blick wechselte von einem goldenen Gesicht zum anderen. »Ihr wolltet mich töten. Nur wegen meines Schwertes.«
    Agilus sagte: »Ich hoffte, du würdest es bei mir lassen. Weißt du noch? Ich wollte dich überreden, es bei mir zu lassen und unerkannt zu fliehen. Ich hätt' dir die Kleidung gestellt und dir mein ganzes Geld gegeben.«
    »Severian, verstehst du denn nicht? Es ist zehnmal wertvoller als der ganze Laden, und der Laden ist alles gewesen, was wir besessen haben.«
    »Das war nicht euer erstes Mal. Kann's nicht gewesen sein. Alles lief viel zu glatt. Ein rechtmäßiger Mord, ohne daß eine Leiche im Gyoll triebe.«
    »Du wirst Agilus töten, nicht wahr? Deswegen wirst du gekommen sein – aber du hast erst beim öffnen der Tür gemerkt, daß wir es sind. Was haben wir getan, was du nicht tun wirst?«
    Agias Gekreische folgte die ruhigere Stimme ihres Bruders: »Es war ein fairer Kampf. Wir waren ebenbürtig bewaffnet, und du hattest den Bedingungen zugestimmt. Wirst du mir morgen auch einen solchen Kampf liefern?«
    »Ihr wußtet, daß mit Anbruch der Dämmerung die Wärme meiner Hände die Averne stimulieren würde, so daß sie auf mein Gesicht losginge. Du hattest Handschuhe an und brauchtest nur zu warten. In Wirklichkeit nicht einmal das, denn du warst im Werfen der Blätter geübt.«
    Agilus lächelte. »Also war das mit den Handschuhen doch nebensächlich.« Er spreizte die Hände. »Ich habe gewonnen. Aber der eigentliche Sieger bist du dank irgendeines magischen Tricks, den weder meine Schwester noch ich erklären kann. Du hast mich dreimal ins Unrecht gesetzt, und das alte Gesetz besagt, ein Mann der dreimal ins Unrecht gesetzt worden sei, dürfe von seinem Unterdrücker jeden Gefallen fordern. Ich gebe zu, das alte Gesetz ist nicht mehr in Kraft, aber meine liebste Schwester sagt mir, du habest viel für die Vergangenheit übrig, als deine Zunft groß und deine Burg das Zentrum der Republik gewesen ist. Ich fordere den Gefallen: Befreie mich!«
    Agia stand auf und bürstete das Stroh von den Knien und runden Schenkeln. Als wäre ihr erst jetzt eingefallen, daß sie nackt war, hob sie das blaugrüne Brokatgewand, das mir noch so gut in Erinnerung war, auf und hielt es sich vor den Leib.
    Ich fragte: »Wie habe ich dich ins Unrecht gesetzt, Agilus? Wie mir scheint, hast du mir Unrecht zugefügt oder das wenigstens versucht.«
    »Erstens durch Verleitung. Du trügest ein Erbstück vom Wert einer Villa in der Stadt herum, ohne zu wissen, was du in Händen hieltest. Als Besitzer wäre es deine Pflicht gewesen, das zu wissen, und deine Ignoranz kostet mir morgen womöglich das Leben, falls du mich heut' abend nicht befreist.
    Zweitens hast du dich geweigert, einen Verkauf ins Auge zu fassen. In unserer kommerziellen Gesellschaft kann man seinen Preis so hoch ansetzen, wie man will, ist man aber um keinem Preis zum Verkaufen bereit, so ist das Verrat. Agia und ich trugen die protzige Rüstung eines Barbaren – du trugst sein Herz in dir.
    Drittens hast du durch einen Kunstgriff den Kampf gewonnen. Im Gegensatz zu dir fand ich mich Mächten gegenüber, die stärker waren, als ich ermessen konnte. Ich habe die Nerven verloren, wie es einem jeden ergangen wäre, und sitze so hier. Ich rufe dich an, mich zu

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