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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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befreien.«
    Mir entfuhr ein ungewolltes Lachen, das den Geschmack von Galle mit sich brachte. »Obwohl ich allen Grund habe, dich zu verachten, verlangst du von mir, was ich nicht einmal für Thecla getan hätte, die ich fast mehr als das Leben geliebt habe. Nein. Ich bin kein Narr, und wenn ich vorher keiner gewesen bin, so hat deine liebste Schwester sicher einen aus mir gemacht. Aber einen so großen auch wieder nicht!« Agia ließ ihr Gewand fallen und stürzte sich so heftig auf mich, daß ich dachte, sie wolle mich angreifen. Statt dessen bedeckte sie meinen Mund mit Küssen, ergriff meine Hände und drückte die eine auf ihren Busen, die andre auf ihre samtene Hüfte. Es klebten überall noch moderige Strohteilchen, so auch auf ihrem Rücken, wohin ich meine Hände wenig später legte.
    »Severian, ich liebe dich! Ich habe dich begehrt, als ich bei dir gewesen bin, und ein Dutzend Mal versucht, mich dir hinzugeben. Weißt du noch – der Lustgarten? Dorthin wollte ich dich führen. Wahre Ekstasen hätten wir beide dort erlebt, aber du wolltest ja nicht hin. Sei einmal ehrlich!« (Sie redete so, als wäre Ehrlichkeit etwas krankhaft Abnormes.) »Liebst du mich denn nicht? Nimm mich jetzt... hier! Agilus wird wegschauen, ich versprech's.« Ihre Finger waren zwischen meinen Gürtel und Bauch geglitten, und tasteten sich tiefer; daß sie mit der anderen Hand den Deckel meiner Gürteltasche aufgeklappt hatte, wurde ich deshalb erst gewahr, als ich dort Papier rascheln hörte.
    Ich schlug ihr auf die Hand – vielleicht etwas zu heftig. Sie sprang mich an und hackte mit den Fingernägeln nach meinen Augen, wie es zuweilen auch Thecla getan hatte, wenn sie die Leiden der Gefangenschaft nicht mehr hatte ertragen können. Ich stieß Agia fort, diesmal nicht in einen Stuhl, sondern gegen die Wand. Sie schlug mit dem Kopf gegen einen Mauerstein, und obschon ihr üppiges Haar den Aufprall wohl wie ein Polster dämpfte, klang es so hell wie ein klopfender Mauershammer. Alle Kraft schien aus ihren Knien zu weichen; sie sackte zu Boden, bis sie auf dem Stroh hockte. Ich hätte nie geglaubt, daß sie zu Tränen fähig wäre, aber sie weinte.
    »Was hat sie getan?« fragte Agilus ohne Anteilnahme, höchstens mit ein bißchen Neugier.
    »Das mußt du doch gesehen haben. Sie wollte in meine Gürteltasche greifen.« Ich kramte alles, was ich an Geld besaß, aus dem Münzenfach hervor: zwei Orikalken aus Messing und sieben kupferne Aes. »Oder sie wollte mir meinen Brief für den Archon von Thrax stehlen. Ich hab' ihr einmal davon erzählt, bewahre ihn aber woanders auf.«
    »Ich wette, sie wollte die Münzen. Mir hat man zu essen gebracht, aber sie muß schrecklich hungrig sein.«
    Ich hob Agia auf, drückte ihr das Gewand in die Hand, öffnete die Tür und führte sie hinaus. Sie war noch benommen, aber als ich ihr ein Orikalkum schenkte, warf sie es auf die Erde und spuckte darauf.
    Als ich in die Zelle zurückkehrte, saß Agilus im Schneidersitz, den Rücken an die Wand gelehnt. »Frag mich nicht über Agia aus!« sagte er.
    »Alles, was du vermutest, stimmt – reicht das? Ich werde morgen tot sein, und sie wird den alten Mann heiraten, der sie so verehrt, oder irgendeinen anderen. Ich hab' mir gewünscht, daß sie es schon früher getan hätte. Er hätte nichts dagegen einwenden können, daß sie mich, ihren Bruder, besucht. Nun bin ich bald nicht mehr, und sie braucht sich nicht einmal mehr darüber den Kopf zu zerbrechen.«
    »Ja«, knüpfte ich an, »du wirst morgen sterben. Deshalb bin ich hier, um darüber mit dir zu sprechen. Liegt es dir am Herzen, welches Bild du auf dem Schafott abgibst?«
    Er betrachtete seine recht zierlichen, glatten Hände in dem schmalen Bündel Sonnenschein, das ihn und seine Schwester vorhin wie ein Heiligenschein umspielt hatte. »Ja«, antwortete er. »Vielleicht kommt sie. Ich hoffe nicht, daß sie kommt, aber ja, es liegt mir am Herzen.«
    Ich erklärte ihm also (wie ich es gelehrt worden war), am Morgen wenig zu essen, damit ihm nicht übel werde, sei die Zeit genaht, und riet ihm, vorher die Blase zu leeren, die beim Schwerthieb erschlaffe. Ich unterwies ihn auch in jener falschen Prozedur, die wir allen zum Tode Verurteilen beibringen, so daß sie glauben, der Moment sei noch nicht ganz gekommen, wenn es in Wirklichkeit schon passiert ist, der falschen Prozedur, die sie mit etwas weniger Angst sterben läßt. Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hat, wenngleich ich das auch hoffe;

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