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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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war das gleiche Papier, die gleiche Tinte.«
    »Also wurde er dort geschrieben«, überlegte sie. »War wohl einer vom Personal, weil er den Stallburschen beim Namen nannte. Aber was hat es zu bedeuten?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich kann dir sagen, warum er ausgerechnet an diese Stelle gelegt worden ist. Ich hab' mich vor dir auf dieses Gehörnsofa gesetzt. Weißt du noch, ob der Kellner – er muß den Zettel mitgebracht haben, egal, ob er ihn selbst geschrieben hat oder nicht – das Tablett abgestellt hat, bevor ich zum Waschen aufgestanden bin?«
    »Ich kann mich an alles erinnern«, sagte ich, »bis auf gestern abend. Agia saß auf einem Klappstuhl mit Segeltuchbespannung, du auf dem Sofa, richtig, und ich neben dir. Ich hatte mein Schwert und die Averne auf dem Stock getragen und legte die Averne der Länge nach hinters Sofa. Dann kam die Magd mit Wasser und Handtüchern und ging wieder, um mir Öl und Putzlappen zu holen.«
    Dorcas meinte: »Wir hätten ihr etwas Geld geben sollen.«
    »Ich gab ihr ein Orikalkum für den Wandschirm. Vermutlich ist das so viel, wie sie die ganze Woche verdient. Jedenfalls gingst du hinter den Schirm, und im nächsten Moment führte der Wirt den Kellner mit dem Tablett und dem Wein herein.«
    Deshalb also hab' ich ihn nicht gesehen. Der Kellner muß gewußt haben, wo ich sitze, weil kein anderer Platz frei gewesen ist. So ließ er also den Zettel unter dem Tablett liegen und hoffte, ich würde ihn entdecken, wenn ich wieder Platz nähme. Wie hieß die erste Zeile gleich wieder?«
    »›Die Frau bei dir war schon einmal hier. Trau ihr nicht.‹«
    »Er muß für mich gewesen sein. Wäre er für dich bestimmt gewesen, hätte der Verfasser zwischen Agia und mir unterschieden, vielleicht durch einen Hinweis auf die Haarfarbe. Wäre er für Agia gewesen, hätte er an der gegenüberliegenden Tischseite unter dem Tablett hervorgeschaut, wo statt deiner sie ihn gesehen hätte.«
    »Also hast du jemand an seine Mutter erinnert.«
    »Ja.«
    Wieder standen ihre Augen voll Tränen. »Du bist noch zu jung, um ein Kind zu haben, das eine solche Nachricht schreiben könnte.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie und vergrub ihr Gesicht in den tiefen Falten des braunen Mantels.

Agilus
    Nachdem der leitende Arzt mich untersucht und für nicht mehr behandlungsbedürftig befunden hatte, forderte er mich auf, das Lazarett zu verlassen, wo mein Mantel und Schwert die Patientenschaft, wie er sagte, beunruhige.
    Auf der gegenüberliegenden Seite des Gebäudes, in dem ich mit den Berittenen gegessen hatte, fanden wir einen Laden vor, der ihren Bedarf deckte. Neben falschem Schmuck und allerlei Plunder, den Männer ihren Buhlinnen verehren, führte er auch eine beschränkte Auswahl von Damengarderobe; und obwohl meine Börse durch das Mahl im Gasthaus zur verlorenen Liebesmüh, das wir uns nicht einmal hatten angedeihen lassen, ziemlich erschöpft war, konnte ich Dorcas eine Simarre kaufen.
    Der Eingang zum Justizpalast befand sich ganz in der Nähe des Ladens. Eine etwa hundertköpfige Menschenmenge drängte sich davor, und da die Leute mit Fingern deuteten und sich mit dem Ellbogen anrempelten, als sie meine schwarze Tracht gewahrten, zogen wir uns wieder auf den Hof zurück, wo die Streitrosse angebunden waren. Ein Amtmann des Gerichtshofes entdeckte uns dort – eine imposante Gestalt mit einer hohen, weißen Stirn, die rund wie der Bauch eines Kruges war. »Du bist der Scharfrichter«, sagte er. »Mir ist gesagt worden, daß du wieder genügend bei Kräften bist, um deines Amtes zu walten.«
    Ich erklärte, ich könne heute alles tun, was sein Herr verlange.
    »Heute? Nein, nein, das ist unmöglich. Der Prozeß dauert noch bis zum Nachmittag.«
    Da er sich erkundigte, ob ich soweit genesen sei, eine Hinrichtung zu vollstrecken, müsse er davon überzeugt sein, daß der Gefangene für schuldig befunden würde, sagte ich zu ihm.
    »Oh, das steht außer Frage! Schließlich starben neun Menschen, und der Angeklagte wurde an Ort und Stelle ergriffen. Da er keine bedeutende Persönlichkeit ist, dürfte eine Begnadigung oder Berufung ausgeschlossen sein. Das Tribunal wird morgen vormittag ein zweites Mal tagen, aber du wirst erst ab Mittag benötigt.«
    Da ich keine unmittelbare Erfahrung mit Richtern oder Gerichten hatte (in der Zitadelle waren die Klienten stets zu uns gebracht worden, und Meister Gurloes hatte die Beamten empfangen, die uns gelegentlich aufsuchten, um sich über das Ergehen dieses

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