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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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und rannten andere Leute über den Haufen. Schließlich streckte ihn ein starker Mann von hinten nieder, und eine Frau, die irgendwo anders gekämpft hatte, eilte mit einem Säbel herbei. Sie hackte die Averne entzwei – nicht quer durch, sondern der Länge nach, so daß ihr Stiel gespalten wurde. Ein paar von den Männern ergriffen den Hipparchen, und ich hörte den Säbel klirrend auf seinen Helm niederfahren.
    Du bliebst einfach stehen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob du sein Verschwinden bemerkt hattest. Die Averne näherte sich deinem Gesicht. Ich besann mich darauf, was die Frau gemacht hatte, und hieb mit deinem Schwert nach ihr. Zuerst war es schwer, so furchtbar schwer, dann überhaupt nicht mehr. Als ich damit zuschlug, glaubte ich, einem Wisent den Schädel spalten zu können. Nur hatte ich vergessen, es aus der Scheide zu ziehen. Jedoch schmetterte ich dir die Averne aus der Hand. Dann nahm ich dich und führte dich fort ...«
    »Wohin?« wollte ich wissen.
    Sie schauderte und tunkte einen Brotbrocken in die dampfende Brühe. »Ich weiß es nicht. Es war mir egal. Es tat so gut, einfach mit dir zu gehen, zu wissen, daß ich dir behilflich war, wie du mir vor dem Holen der Averne behilflich gewesen warst. Aber mir wurde kalt, schrecklich kalt, als die Nacht anbrach. Ich legte dir den Mantel um und schloß ihn vorne. Da es dich offenbar nicht fror, hüllte ich mich in deinen Umhang. Ich hatte ja nur noch Fetzen am Leib. Wie jetzt auch.«
    »Ich wollte dir im Gasthaus ein Kleid kaufen«, erwiderte ich.
    Sie schüttelte, heftig an einem Stück Brotkruste kauend, den Kopf.
    »Weißt du, ich glaube, das ist das erste Essen, das ich seit langer, langer Zeit bekomme. Ich habe Magenschmerzen – deshalb habe ich dort einen Schluck Wein gewollt – aber es wird schon besser damit. Ich habe gar nicht gespürt, wie schwach ich geworden bin.
    Aber ich wollte dort kein neues Kleid, weil ich es lange hätte tragen müssen und es mich stets an jenen Tag erinnert hätte. Nun kannst du mir eins kaufen, wenn du magst, weil mich das an diesen Tag erinnert, wo ich dich für tot gehalten habe, während du in Wirklichkeit gesund bist.
    Jedenfalls kamen wir irgendwo in die Stadt zurück. Ich hoffte, für dich ein Plätzchen zum Hinlegen zu finden, aber dort waren nur große Häuser mit Terrassen und Balustraden und so weiter. Dann kamen Soldaten angeritten und fragten, ob du ein Carnifex seist. Ich kannte das Wort nicht, besann mich aber darauf, was du mir erzählt hattest, und antwortete ihnen, du seist ein Folterer, weil mir Soldaten immer wie eine Art Folterer erschienen waren und ich mir dachte, sie würden uns bestimmt helfen. Sie wollten dich rittlings in den Sattel setzen, aber du fielst herunter. Also banden einige davon ihre Umhänge zwischen zwei Lanzen, legten dich darauf und steckten die Lanzenenden in die Steigbügelriemen zweier Streitrosse. Einer von ihnen wollte mich zu sich auf den Rücken des Tieres nehmen, aber ich weigerte mich. Ich ging den ganzen Weg neben dir her und redete immer wieder mit dir, obwohl du mich offenbar nicht hörtest.«
    Sie leerte die Suppenschale. »Nun möchte ich dich etwas fragen. Als ich mich hinter dem Wandschirm wusch, konnte ich dich und Agia von einem Zettel flüstern hören. Danach suchtest du im Gasthaus jemand. Willst du mir das erklären?«
    »Warum fragst du erst jetzt?«
    »Weil Agia bei uns war. Falls du etwas herausbekommen hättest, wollte ich nicht, daß sie es hörte.«
    »Was ich herausfinden könnte, könnte gewiß auch Agia herausfinden«, entgegnete ich. »Ich kenne sie kaum, ja ich glaube, ich kenne sie weniger gut als dich. Was ich allerdings weiß, ist, daß sie viel gerissener ist als ich.«
    Dorcas schüttelte wieder den Kopf. »Sie ist eine von diesen Frauen, die zwar anderen Leuten Rätsel aufgeben, solche, die nicht von ihnen stammen, aber nicht lösen können. Ich glaube, sie denkt – ich weiß nicht – schräg; so daß niemand ihren Gedankengängen zu folgen vermag. Sie ist eine von diesen Frauen, die, wie man sagt, wie ein Mann denken. In Wirklichkeit denken solche Frauen aber nicht wie Männer, denken noch weniger wie Männer als die meisten Frauen. Sie denken einfach nicht wie Frauen. Wie sie denken, das ist schwer nachzuvollziehen, was aber nicht heißt, daß es klar oder tiefgründig wäre.«
    Ich berichtete ihr vom Zettel, seinem Inhalt und seinem Verlust und erwähnte, daß ich auf dem Papier des Wirts eine Abschrift angefertigt hätte. »Es

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