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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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mir auch klar, daß ich es nicht über mich brächte, sie zu verschonen.
    Vorhin hätte ich mich zurückgehalten, hätte sie darum gebeten. Nun konnte ich nicht mehr; genauso wie ich vorangestürmt wäre, obschon ich dabei in eine Lanze gerannt wäre, würde ich ihr später folgen und sie an mich zu ketten versuchen.
    Aber es war nicht mein Leib, sondern der ihre, der durchbohrt wurde. Noch während wir standen, nestelte ich an ihr und küßte ihre Brüste, die wie eine runde, in zwei Teile gespaltene Frucht waren. Nun hob ich sie hoch, und gemeinsam fielen wir rückwärts auf eines der Betten. Sie schrie auf, halb vor Wonne, halb vor Schmerz, und stieß mich fort, um mich sogleich wieder zu umarmen. »Ich bin froh«, sagte sie, »so froh«, und biß mich in die Schulter. Sie beugte sich zurück wie ein gespannter Bogen.
    Später rückten wir die Betten zusammen, so daß wir Seite an Seite liegen konnten. Das zweite Mal ging alles langsamer; zu einem dritten Mal war sie nicht bereit. »Du brauchst deine Kraft für morgen«, sagte sie.
    »Also liegt dir nichts daran.«
    »Ginge es nach unserem Willen, brauchte kein Mann sich auf Wanderschaft begeben oder zur Ader lassen. Aber die Frauen haben die Welt nicht gemacht. Ihr alle seid auf die eine oder andre Weise Folterer.«
    Es regnete in dieser Nacht so heftig, daß wir das Trommeln der Tropfen auf den Dachziegeln über uns hören konnten: ein reinigender, donnernder, endloser Wasserguß. Ich döste und träumte, die Welt sei auf den Kopf gestellt. Der Gyoll, nun oben, entleere seine ganze Flut von Fischen, Unrat und Blumen über uns. Ich sah das große Gesicht, das ich unter Wasser erblickt hatte, als ich fast ertrunken wäre – ein rotweißes Omen, das im Himmel erschien und beim Lächeln nadelspitze Zähne entblößte.
    Thrax nennt man die Stadt der Fensterlosen Zimmer. Dieses unser fensterloses Zimmer sei eine Vorbereitung auf Thrax, dachte ich. So werde es in Thrax sein. Oder Dorcas und ich seien schon da, und es liege nicht soweit nördlich, wie ich glaubte, nicht so weit nördlich, wie man mich glauben machte ...
    Dorcas stand auf, um hinauszugehen, und ich begleitete sie, da sie zu nächtlicher Stunde an einem solchen Ort, wo es von Soldaten wimmelte, allein nicht ganz sicher wäre. Der Flur vor unserem Zimmer verlief entlang einer mit Schießscharten durchbrochenen Außenmauer, durch die feines Sprühwasser hereinspritzte. Ich wollte Terminus Est in der Scheide belassen, aber ein so großes Schwert ließe sich nur langsam ziehen. Wieder in unserem Zimmer, stellten wir den Tisch gegen die Tür, und ich holte den Wetzstein hervor, schliff die scharfe Seite der Klinge und zog die Schneide ab, bis das untere Drittel – der Teil, den ich gebrauchen würde – einen in die Luft geworfenen Faden durchtrennt hätte. Dann wischte ich die ganze Klinge sauber, ölte sie und lehnte das Schwert nahe meinem Kopf an die Wand.
    Morgen wäre mein erster Auftritt auf dem Schafott, es sei denn, der Chiliarch entschlösse sich im letzten Moment dazu, Gnade walten zu lassen. Diese Möglichkeit, dieses Risiko bestand immer. Die Geschichte lehrt, daß jedes Zeitalter seine unbestrittene Neurose hat, und Meister Palaemon hat mich gelehrt, die Gnade sei die unsrige: eine Möglichkeit zu sagen, eins minus eins sei mehr als nichts; zu sagen, da das menschliche Gesetz nicht in sich selbst konsequent sein müsse, brauchte es die Justiz auch nicht zu sein. Es steht in dem braunen Buch irgendwo zwischen zwei Mythen ein Dialog, in dem einer darlegt, Kultur sei ein Auswuchs der Vision des Increatus, ebenso logisch und richtig, durch die innere Übereinstimmung gebunden, seine Versprechen und Drohungen zu verwirklichen. Wenn das der Fall sei, dachte ich, stünde uns der Untergang bevor, und die Invasion aus dem Norden, bei deren Abwehr so viele ihr Leben lassen mußten, sei nur der Sturm, der den bereits morschen Baum umstürzen werde.
    Recht und Gerechtigkeit sind etwas Hohes, und als ich in dieser Nacht neben Dorcas gelegen und dem Regen gelauscht habe, bin ich noch jung gewesen, so daß ich nur Hohes und Großes angestrebt habe. Deshalb habe ich mir wohl so gewünscht, daß unsere Zunft die Stellung und Achtung von einst wiedererlange. (Diesen Wunsch hegte ich sogar noch, als ich von ihr verstoßen und entlassen worden war.) Vielleicht geschah es auch aus diesem Grunde, daß meine Liebe zu den Lebewesen, die ich als Kind so stark empfunden hatte, erkaltete, bis sie nur noch eine Erinnerung

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