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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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die ich vor einem Augenblick durchwühlt hatte, schienen weggeblasen wie Blätter, die der Wind einem ins Gesicht pustet.
    In diesem Augenblick der Verwirrung erkannte ich zum ersten Mal, daß ich ein bißchen verrückt war. Es war der schrecklichste Moment meines Lebens, ließe sich dagegenhalten. Ich hatte sie oft belogen, Meister Gurloes und Meister Palaemon, Meister Malrubius, als er noch lebte, Drotte, weil er unser Wart war, Roche, weil er älter und stärker als ich war, und Eata und die übrigen jüngeren Lehrlinge, weil ich ihnen Respekt vor mir einflößen wollte. Jetzt hatte ich keine Gewißheit mehr, daß mein eigener Verstand mich nicht belog; alle meine Unwahrheiten prallten auf mich zurück, und ich, der ich ein lückenloses Gedächtnis besaß, konnte mir nicht mehr sicher sein, daß meine Erinnerungen mehr als meine Träume waren. Ich besann mich auf das mondbeschienene Gesicht von Vodalus; allerdings hatte ich mir gewünscht, es zu sehen. Ich besann mich auf seine Stimme, als er mit mir gesprochen hatte; allerdings hatte ich mir gewünscht, sie zu hören, und die der Frau ebenfalls.
    Eines Nachts, es war klirrend kalt, schlich ich mich in mein Mausoleum und holte den Chrysos wieder hervor. Das abgegriffene, ruhige Zwittergesicht auf seiner Rückseite war nicht das Gesicht von Vodalus.

Triskele
    Ich hatte eben mit einem Stock ein zugefrorenes Abflußrohr (als Strafe für einen kleinen Fehltritt) freigestochert, als ich ihn dort fand, wo die Wärter des Bärenturms ihre Abfälle hinwarfen: die Kadaver toter Tiere, die bei ihren Übungen ums Leben kamen. Unsere Zunft begräbt ihre eigenen Toten neben der Mauer und unsere Klienten im unteren Teil der Nekropolis; die Wächter des Bärenturms hingegen überlassen ihre den anderen, die sie fortschaffen. Er war der kleinste von diesen toten Körpern.
    Es gibt Begegnungen, die nichts verändern. Unsere Urth kehrt ihr greises Angesicht der Sonne zu, und diese leuchtet über ihren Schnee; er funkelt und glitzert, und bald scheint jeder kleine Eiszapfen am gebauchten Mauerwerk der Türme die Klaue des Schlichters, dieses allerkostbarste Juwel, zu sein. Dann glaubt jeder außer den Weisesten, daß der Schnee schmelzen und einem langen Sommer um den anderen weichen müsse.
    Nichts dergleichen geschieht. Das Paradies dauert ein, zwei Wachen lang fort, dann werden die Schatten, die blau wie Milch in Wasser sind, länger auf dem Schnee, der tänzelnd unter den Sporen eines Ostwinds weiterwandert. Die Nacht bricht an, und alles bleibt wie vorher.
    Als ich Triskele fand, spielte es sich so ab. Ich glaubte, dadurch hätte sich alles ändern können, ändern müssen, aber es war nur eine Episode von ein paar Monaten; mit ihrem Ende war wieder einmal ein Winter vorüber und das Fest der Hl. Katharina gekommen, ohne daß sich etwas geändert hätte. Könnte ich euch nur beschreiben, wie mitleiderregend er aussah, als ich ihn berührte, und wie froh.
    Er lag auf der Seite, von Blut überströmt. Dieses war zäh wie Teer in der Kälte und noch hellrot, weil es in der Kälte nicht geronnen war. Ich ging hin und legte die Hand auf seinen Kopf – warum weiß ich nicht.
    Er wirkte so tot wie der Rest, aber dann schlug er ein Auge auf und schielte mich an – voller Zuversicht, daß das Schlimmste nun überstanden sei: Ich habe mein Teil geleistet, schien es zu sagen, und alles ertragen und alles mir mögliche getan; nun obliegt es dir, an mir deine Pflicht zu tun.
    Wäre es Sommer gewesen, hätte ich ihn wohl sterben lassen. Nun war es jedoch so, daß ich seit längerer Zeit kein lebendes Tier mehr gesehen hatte – nicht einmal einen von Abfällen lebenden Thylacodon. Ich streichelte ihn wieder, und er leckte meine Hand, woraufhin ich mich nicht mehr abwenden konnte.
    Ich hob ihn auf (erstaunt, daß er so schwer war) und blickte mich um, während ich überlegte, was ich mit ihm tun sollte. In unserem Schlafsaal würde er bestimmt entdeckt, noch ehe die Kerze einen Fingerbreit abgebrannt wäre. Die Zitadelle ist unermeßlich und unermeßlich kompliziert mit ihren wenig benutzten Zimmern und Gängen in den Türmen, in den zwischen den Türmen errichteten Gebäuden und unterirdischen Gewölben darunter. Dennoch fiel mir kein Ort ein, den ich erreichen könnte, ohne unterwegs ein halbes Dutzend Mal gesehen zu werden, so daß ich das arme Vieh schließlich in die Quartiere unserer eigenen Zunft trug.
    Dann müßte ich ihn an dem Gesellen vorbeischaffen, der am oberen Ende der

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