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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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obschon ich keine Erklärung dafür hatte – ja, nicht einmal sagen konnte, was für eine Empfindung er in mir auslöste.
    Heimlich wollte ich es abnehmen und forttragen – nicht in unsere Nekropolis, sondern in einen jener Bergwälder, deren idealisiertes, aber verunreinigtes Gegenstück (wie mir schon damals klar war) unsere Nekropolis darstellte. Es hätte zwischen Bäumen stehen sollen, mit dem Rahmen auf frischem Gras ruhend.
    »... und so«, erklang es hinter mir, »sind alle entwischt. Vodalus hat bekommen, was er gewollt hat.«
    »Du«, fuhr mich ein anderer barsch an. »Was suchst du hier?«
    Ich wandte mich um und erblickte zwei Waffenträger in bunter Kleidung, die so gewagt wie möglich die Tracht der Beglückten nachahmte. Ich antwortete: »Ich habe eine Mitteilung für den Archivar«, und hielt das Kuvert hoch.
    »Na gut«, sagte der Waffenträger, der mich angesprochen hatte.
    »Weißt du, wo sich die Archive befinden?«
    »Das wollte ich gerade fragen, Sieur.«
    »Dann bist du kein geeigneter Bote für den Brief. Gib ihn mir, und ich gebe ihn einem Pagen.«
    »Das kann ich nicht, Sieur. Ich bin beauftragt, ihn selbst abzuliefern.«
    Der andere Waffenträger sagte: »Sei doch nicht so streng mit diesem Jüngling, Racho.«
    »Du weißt nicht, was er ist, nicht wahr?«
    »Weißt du's?«
    Derjenige namens Racho nickte. »Von welchem Teil dieser Zitadelle bist du, Bote?«
    »Vom Matachin-Turm. Meister Gurloes schickt mich zum Archivar.«
    Der andere Waffenträger machte ein verkniffenes Gesicht. »Du bist also ein Folterer.«
    »Nur ein Lehrling, Sieur.«
    »Nun wundert's mich nicht mehr, daß mein Freund dich aus den Augen haben will. Folge der Galerie bis zur dritten Tür, dann abbiegen und etwa hundert Schritt geradeaus, über die Treppe bis zum zweiten Absatz und dort südlich über den Gang bis zu der Flügeltür am Ende.«
    »Danke«, sagte ich und tat einen Schritt in die angezeigte Richtung.
    »Warte ein bißchen! Wenn du jetzt gehst, müssen wir dich anschauen.« Racho meinte: »Ich hätte ihn lieber vor als hinter uns.«
    Ich wartete trotzdem, eine Hand auf den Holm der Leiter gestützt, bis die beiden um eine Ecke verschwunden waren.
    Wie im Traum ein freundlicher Geist aus den Wolken zu einem spricht, sagte der Greis: »Du bist also ein Folterer. Weißt du, daß ich noch nie bei euch gewesen bin.« Der schwache Blick seiner Augen erinnerte mich an die Schildkröten, die wir manchmal an den Ufern des Gyoll erschreckt hatten, und seine Nase und sein Kinn berührten sich fast.
    »Offengestanden habe ich Euch noch nie dort gesehen«, erwiderte ich höflich.
    »Ich habe nichts mehr zu befürchten. Was könntet ihr schon mit einem Mann wie mir anfangen? Schwupp! würde mein Herz zu schlagen aufhören.« Er ließ den Schwamm in den Eimer fallen und wollte mit seinen nassen Fingern schnalzen, aber brachte keinen Laut zustande. »Obwohl, ich weiß, wo er ist. Hinter dem Hexenturm. Hab' doch recht?«
    »Ja«, antwortete ich, ein bißchen überrascht, daß die Hexen bekannter als wir waren.
    »Dacht' ich mir doch. Obwohl, man spricht nicht drüber. Du hast dich über die Waffenträger geärgert, was ich gut verstehen kann. Aber du solltest wissen, wie es sich mit ihnen verhält. Sie gelten als Beglückte, sind's aber nicht. Sie fürchten den Tod, scheuen sich wehzutun und scheuen sich, entsprechend zu handeln. Das setzt ihnen hart zu.«
    »Sie sollten beseitigt werden«, sagte ich. »Vodalus würde sie in den Steinbruch schicken. Sie sind nur ein Überbleibsel einer verflossenen Zeit – von welchem Nutzen könnten sie heute noch für die Welt sein?«
    Der Greis legte den Kopf schief. »Von welchem Nutzen waren sie seit Anbeginn? Weißt du's?«
    Als ich verneinte, stieg er von der Leiter herunter wie ein betagter Affe, scheinbar aus lauter Armen und Beinen und runzligem Nacken bestehend; seine Hände waren so lang wie meine Füße, die gekrümmten Finger mit einem Netz blauer Adern überzogen. »Ich bin Rudesind, der Kurator. Du kennst den alten Ultan, nehme ich an? Nein, natürlich nicht; sonst wüßtest du den Weg zur Bibliothek.«
    Ich entgegnete: »Ich bin noch nie in diesem Teil der Zitadelle gewesen.«
    »Noch nie? Aber das hier ist der beste. Kunst, Musik und Bücher. Wir besitzen einen Fechin, der drei Mädchen zeigt, die einander mit Blumen bekränzen, welche so echt wirken, daß man meint, gleich flögen aus ihnen die Bienen hervor. Auch einen Quartillosa. Nicht mehr beliebt, der Quartillosa,

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