Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
Drotte und Roche erhoben, so daß mir die Aufgabe des Lehrlingswarts zufiel.
    Die ganze Bürde dieses Amtes drückte sich mir erst auf, als das Ritual fast vorüber war. Ich saß in der verfallenen Kapelle und genoß das Schauspiel in dem neuen Bewußtsein (erwartungsvoll wie meine Vorfreude auf das Fest), daß ich von den übrigen nun der Ranghöchste wäre, als es auch schon zu Ende ging.
    Allmählich jedoch ergriff mich Unbehagen. Ich hatte mich elend gefühlt, bevor ich merkte, daß ich unglücklich wurde, und schwer mit Verantwortung beladen, ehe ich richtig verstand, daß sie auf mir lastete. Es erinnerte mich daran, wie mühsam Drotte uns Zucht und Ordnung hatte abringen müssen. Ich mußte das nun ohne seine Kraft zustandebringen – und ohne den gleichaltrigen Stellvertreter, den er in Roche gehabt hatte. Als der Schlußgesang donnernd verhallt, die Meister Gurloes und Palaemon mit ihren goldgefaßten Masken durch die Tür gewallt und Drotte und Roche, die neuen Gesellen (die bereits in ihren Gürtelsäckchen nach den Feuerwerkskörpern kramten, die sie draußen abfeuern wollten), von den alten auf die Schultern gehoben worden waren, hatte ich mich gestählt und sogar einen ersten Plan geschmiedet.
    Wir Lehrlinge mußten den Feiernden bei Tisch aufwarten, zuvor aber das frische und ziemlich saubere Gewand, das wir für die Zeremonie bekommen hatten, ablegen. Nachdem der letzte Knallfrosch verschossen war und die Kanoniere als alljährliche Freundschaftsgeste den Himmel mit dem stärksten Geschütz im Großen Turm zerrissen hatten, trieb ich die mir Anbefohlenen – die mich bereits, wie ich glaubte, voller Groll ansahen – zurück in unseren Schlafsaal, schloß die Tür und schob ein Bett davor.
    Eata war der Älteste nach mir, und weil ich zu meinem Glück in der Vergangenheit auf recht freundschaftlichem Fuß mit ihm gestanden war, ahnte er nichts, bis es für eine wirksame Gegenwehr zu spät war. Ich packte ihn am Kragen, schlug ihn mit dem Kopf ein halbes Dutzend Mal gegen die Wand und stieß ihm dann die Beine weg.
    »Nun«, sagte ich, »wirst du mein Gehilfe sein? Antworte!« Er konnte nicht sprechen, nickte aber.
    »Gut. Ich schnappe mir Timon. Du knöpfst dir den Nächstgrößten vor.«
    Binnen hundert Atemzügen (freilich sehr raschen Atemzügen) waren die Knaben gewaltsam gefügig gemacht. Es dauerte drei Wochen, bis es zum ersten Ungehorsam kam, allerdings nicht in Gestalt eines Massenaufstands, sondern einzelner Drückebergerei.
    Als Lehrlingswart hatte ich sowohl neue Aufgaben als auch mehr Freiheiten denn je zuvor. Ich war es, der dafür sorgte, daß die Gesellen ihr Mal heiß bekamen, und der die Knaben beaufsichtigte, die sich mit dem Tablettstapeln für unsere Klienten abplagten. In der Küche trieb ich meine Schützlinge zur Arbeit, und im Klassenzimmer half ich beim Lernen nach; ich wurde viel umfangreicher als früher damit betraut, Botschaften in entlegene Teile der Zitadelle zu überbringen und in kleinem Rahmen sogar die Geschäfte der Zunft zu führen. So wurde ich mit allen Verkehrsadern und manchen stillen Ecken vertraut: Kornkammern mit hohen Speichern und dämonischen Katzen, zugigen Wällen über brandigen Elendsvierteln und der Pinakothek, deren geräumige Halle ein gewölbtes, mit Fenstern durchsetztes Ziegeldach überspannte, deren Steinfußböden mit Teppichen ausgelegt und deren Wände – wie auch die Zimmerfluchten hinter dunklen Arkaden im Mittelschiff – mit zahllosen Bildern behängt waren.
    Viele dieser Gemälde waren so alt und rußgeschwärzt, daß ich das Dargestellte nicht erkennen konnte, und daneben sah ich andere, deren Sinn ich nicht zu enträtseln vermochte: einen Tänzer, dessen Flügel Würmer schienen; eine Frau mit einem zweischneidigen Dolch in der Hand, stumm unter einer Totenmaske sitzend. Nachdem ich eines Tages mindestens eine Meile durch diese geheimnisvollen Räume spaziert war, traf ich auf einen Mann, der auf einer hohen Leiter saß. Ich wollte ihn nach dem Weg fragen, aber offenbar war er so in seine Arbeit versunken, daß ich ihn nicht stören wollte.
    Das Bild, das er reinigte, zeigte einen Ritter in einer öden Landschaft. Er trug keine Waffe, sondern hielt einen Stab mit einem seltsamen, starren Banner. Das Visier seines Helmes war aus gediegenem Gold, ohne Sehschlitze oder Luftöffnungen; in seiner matten Oberfläche spiegelte sich die verderbliche Wüste; mehr war nicht zu sehen.
    Dieser Krieger einer toten Welt beeindruckte mich stark,

Weitere Kostenlose Bücher