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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Wie der Rest dieser gewölbten Halle bestand der Bogengang aus stumpfen, rötlichen Ziegeln, war aber von zwei Säulen gestützt, deren Kapitelle das Gesicht eines Schläfers darstellten; jedoch muteten mich die stummen Lippen und blassen, geschlossenen Augen schrecklicher an als die gequälten Fratzen, mit denen das Metall unseres eigenen Turms bemalt war.
    Auf jedem Bild im angrenzenden Raum war mindestens ein Buch dargestellt. Oft waren es gar viele oder hervorstechende; bei manchen mußte ich lange hinsehen, bevor ich die Ecke eines Einbands in der Tasche eines Frauenrocks entdeckte oder erkannte, daß eine Wundersam gearbeitete Spule gleich einer Zwirnrolle Wörter trug.
    Bei den schmalen, tiefen Stufen ohne Geländer handelte es sich um eine Wendeltreppe, die das Licht vom Raum darüber abschirmte, als ich noch keine dreißig hinabgestiegen war. Schließlich mußte ich die Hände vor mich halten und tasten, um mir nicht den Kopf an der Tür einzuschlagen.
    Meine suchenden Finger fanden sie gar nicht. Vielmehr hörte die Treppe auf (ich wäre beinahe gestürzt, als ich eine Stufe, die nicht da war, weiter wollte), und in völliger Finsternis tappte ich über den krummen Fußboden.
    »Wer da?« rief jemand mit einer Stimme, die tönte wie ein Glockenschlag in einer Höhle.

Der Meister der Kuratoren
    »Wer da?« hallte es durch die Dunkelheit. So kühn, wie ich konnte, antwortete ich: »Jemand mit einer Botschaft.«
    »So laß sie hören!«
    Meine Augen hatten sich endlich an die Finsternis gewöhnt; jedoch konnte ich nur eine undeutliche, sehr große Gestalt, die sich zwischen gezackten, noch höheren Formen bewegte, ausmachen. »Es ist ein Brief, Sieur«, erwiderte ich. »Seid Ihr Meister Ultan, der Kurator?«
    »Kein anderer.« Er stand nun vor mir. Was ich zuerst für ein weißliches Kleidungsstück gehalten hatte, entpuppte sich jetzt als Bart, der fast bis zu seiner Hüfte reichte. Ich war bereits so groß wie viele, die als Männer gelten, aber er überragte mich um einen Kopf und einen halben – ein wahrer Beglückter.
    »Bitte sehr, Sieur«, sagte ich und streckte ihm den Brief entgegen.
    Er nahm ihn nicht entgegen. »Wessen Lehrling bist du?« Wieder hörte ich scheinbar tönendes Erz und meinte mit einemmal, er und ich seien tot und die uns umgebende Dunkelheit sei die in unsere Augen dringende Graberde, durch die uns eine Glocke zur Anbetung irgendeines unterirdischen heiligen Schreins rufe. Die bläulich-bleiche Frau, die man vor meinen Augen aus der Gruft gezerrt hatte, stand so lebhaft vor mir wieder auf, daß ich ihr Antlitz in der fast leuchtenden Blässe der Gestalt, die gesprochen hatte, wiedersah. »Wessen Lehrling?« fragte sie abermals.
    »Niemandes. Das heißt, ich bin ein Lehrling der Zunft. Geschickt werde ich von Meister Gurloes, Sieur. Unterrichtet werden wir Lehrlinge hauptsächlich von Meister Palaemon.«
    »Aber nicht in Grammatik.« Sehr bedächtig griff der große Mann mit der Hand nach dem Brief.
    »O ja, auch in Grammatik.« Ihm gegenüber kam ich mir wie ein Kind vor, denn er war schon alt gewesen, als ich zur Welt kam.
    »Meister Palaemon sagt, wir müßten das Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschen, da wir, wenn wir dereinst Meister seien, Briefe zu schreiben, Anweisungen von Gerichten zu empfangen und Aufzeichnungen und Bücher zu führen hätten.«
    »Wie diesen«, sprach die verschwommene Gestalt vor mir. »Briefe wie diesen.«
    »Ja, Sieur, ganz recht.«
    »Und was besagt er?«
    »Weiß ich nicht. Er ist versiegelt, Sieur.«
    »Wenn ich ihn öffne ...« – ich hörte das feste Wachs unter dem Druck seiner Finger brechen –, »liest du ihn mir dann vor?«
    »Es ist dunkel hier, Sieur«, versetzte ich unschlüssig.
    »Dann brauchen wir Cyby. Entschuldige mich.« In der Düsternis konnte ich kaum sehen, wie er sich abwandte und die Hände trompetenförmig vor die Lippen hielt. »Cy-by! Cy-by!« Der Name hallte durch die Korridore, die ich überall vermutete, als ob der eiserne Glockenschwengel bald an diese, bald an jene Seite des tönenden Erzes schlüge.
    Von weitem erklang eine Antwort. Stumm warteten wir eine Weile.
    Schließlich entdeckte ich Licht in einem schmalen Gang, den (wie mir schien) steile, gezackte Felsmauern begrenzten. Es kam näher – ein fünfarmiger Kerzenhalter, getragen von einem stämmigen, steifen Mann um die Vierzig mit einem flachen, blassen Gesicht. Der Bärtige neben mir sagte: »Da bist du endlich, Cyby. Hast du Licht gebracht?«
    »Ja,

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