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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Meister. Wer ist das?«
    »Ein Bote mit einem Brief.« Mit einem feierlicheren Tonfall erklärte mir Meister Ultan: »Das ist mein Lehrling Cyby. Wir haben auch eine Zunft, wir Kuratoren, von der die Bibliothekare einen Zweig bilden. Ich bin der einzige Bibliotheksmeister hier, und es ist bei uns Brauch, die Lehrlinge den höchsten Mitgliedern zu unterstellen. Cyby ist nun schon seit einigen Jahren der meine.«
    Ich sagte Cyby, welche Ehre es für mich sei, ihn kennenzulernen, und fragte etwas schüchtern, was der Feiertag der Kuratoren sei – mich danach zu erkundigen, war mir deswegen eingefallen, weil wohl viele davon verstrichen sein mußten, ohne daß Cyby zum Gesellen erhoben worden war.
    »Er ist gerade vorüber«, antwortete Meister Ultan. Da er mich beim Sprechen ansah, erkannte ich im Kerzenlicht, daß seine Augen milchtrüb waren. »Im zeitigen Frühjahr. Ein wunderschöner Tag. In den meisten Jahren schlagen gerade die Bäume aus.«
    Es gab keine Bäume auf dem Großen Platz, aber ich nickte; da mir klar wurde, daß er mich nicht sehen konnte, fügte ich hinzu: »Ja, wunderschön, mit lauen Brisen.«
    »Genau. Du bist ein Jüngling ganz nach meinem Herzen.« Er legte eine Hand auf meine Schulter – mir stach ins Auge, daß seine Finger braun von Staub waren. »Cyby ist auch ein Jüngling ganz nach meinem Herzen. Er wird hier Hauptbibliothekar sein, wenn ich nicht mehr bin. Weißt du, wir haben einen Festzug, wir Kuratoren. In der Iubar-Straße. Er geht dann an meiner Seite, mit einer grauen Robe wie ich. Was ist die Farbe eurer Zunft?«
    »Kohlschwarz«, eröffnete ich ihm. »Jener Ton, der dunkler als schwarz ist.«
    »Dort stehen Bäume – Plantanen und Eichen, Bergahorne und der Gänsefuß, der angeblich älteste unserer Urth. Die Bäume spenden der Iubar-Straße auf beiden Seiten Schatten, und weitere wachsen an den Esplanaden unten im Zentrum. Kaufleute treten aus den Türen hervor, um den kuriosen Zug zu bestaunen, und natürlich bejubeln uns die Buch- und Antiquitätenhändler, weißt du. Wir sind wohl – auf unsere bescheidene Art – eine der Frühlingsattraktionen in Nessus.«
    »Muß sehr eindrucksvoll sein«, meinte ich.
    »Das ist's, das ist's. Die Kathedrale ist auch sehr schön, wenn wir erst dort sind. Auf Bänken leuchten Wachsstöcke, als ob die Sonne auf die nächtliche See schiene, und Kerzen brennen als Symbol der Klaue hinter blauem Glas. Inmitten dieses Lichtermeers vollzieht sich die Feier vor dem Hochaltar. Sag, geht eure Zunft auch in die Kathedrale?« Ich erklärte ihm, wir benützten die Kapelle hier in der Festung, und drückte mein Erstaunen darüber aus, daß die Bibliothekare und andere Kuratoren ihre Mauern verließen.
    »Wir sind dazu berechtigt. Die Bibliothek selbst reicht über die Mauern hinaus, nicht wahr, Cyby?«
    »Das tut sie fürwahr, Meister.« Cyby hatte eine hohe, glatte Stirn, aus der sich das Haar bereits stark zurückzog. Das ließ sein Gesicht klein und ein bißchen kindlich wirken; mir leuchtete ein, wie Ultan, der gelegentlich mit der Hand darüberfahren mußte (was auch Meister Palaemon manchmal bei mir tat), ihn noch für einen Jungmann halten konnte.
    »Dann besteht also ein enger Kontakt zu den Kollegen in der Stadt«, sagte ich.
    Der Greis strich über seinen Bart. »Der engste, denn das sind wir selbst. Diese Bibliothek ist die Stadtbücherei und übrigens auch die Bücherei vom Haus Absolut. Und von vielen anderen Einrichtungen.«
    »Heißt das, daß der Pöbel aus der Stadt die Zitadelle betreten darf, um Eure Bibliothek zu benutzen?«
    »Nein«, entgegnete Ultan. »Die Bibliothek reicht über die Mauern der Zitadelle hinaus, wie wohl auch andere Institutionen hier. Der Inhalt unserer Festung ist nämlich soviel größer als sein Behältnis.«
    Er nahm mich bei seiner Äußerung bei der Schulter, und gemeinsam schritten wir langsam durch einen der langen, schmalen Gänge zwischen den hohen Bücherregalen. Cyby folgte uns mit dem Leuchter, den er wohl mehr zum eigenen als zu meinem Vorteil hielt – immerhin konnte ich soviel sehen, daß ich nicht gegen die dunklen Eichengestelle stieß. »Dein Augenlicht ist noch gut«, meinte Meister Ultan nach einer Weile. »Kannst du ein Ende dieses Flügels erkennen?«
    »Nein, Sieur«, antwortete ich, weil ich's tatsächlich nicht konnte. Soweit die Kerzen leuchteten, reihte sich zwischen Boden und Decke ein Buch ans andere. Einige Regale waren in Unordnung, andere aufgeräumt; ein- oder zweimal

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