Der Schatten des Folterers
überhaupt nichts gewußt hatte. Im Dunkeln konnte ich den Abdrücken nicht mehr nachspüren, aber mit der Hoffnung, er würde in der stickigen Luft meine Witterung aufnehmen und zu mir zurückkehren, eilte ich dennoch weiter. Schnell hatte ich mich verirrt und ging nur deswegen weiter, weil ich den Rückweg nicht mehr wußte.
Es ist nicht in Erfahrung zu bringen, wie alt diese Stollen sind. Obwohl ich keine Erklärung dafür habe, vermute ich, daß sie schon gewesen sind, als es die Zitadelle (so altertümlich sie auch ist) noch nicht gegeben hat. Diese entstammt dem Ende des Zeitalters, wo der Drang zum Fliegen, der Drang nach draußen, um andere neue Sonnen zu finden, noch existiert hat, die Möglichkeiten zur Verwirklichung dieses Fluges aber immer mehr gesunken sind, wie ein Feuer niederbrennt. So weit diese Zeit, aus der uns fast nichts überliefert ist, auch zurückliegt, wir haben sie nicht vergessen. Davor muß es eine andere Zeit gegeben haben: eine Zeit der Höhlen, des Untertagebaus, von der wir überhaupt nichts mehr wissen.
Wie dem auch sei, ich bekam Angst dort. Ich rannte – und rannte manchmal gegen Mauern –, bis ich schließlich eine taghelle Öffnung sah und mich durch ein Loch zwängte, durch das ich kaum mit Kopf und Schultern paßte.
Ich fand mich wieder auf dem eisbedeckten Fundament von einer dieser alten, facettierten Uhren, deren zahlreiche Zifferblätter jeweils eine andere Zeit messen. Bestimmt hatte sie sich aufgrund des Frostes, der in diesen letzten Jahrhunderten in den Stollen darunter eingedrungen war und ihren Sockel gehoben hatte, ein wenig seitwärts geneigt, so daß sie in einem gewissen Winkel abstand und als einer ihrer eigenen Sonnenuhrzeiger das stumme Voranschreiten des kurzen Wintertages als Schatten auf den makellosen Schnee warf.
Der sie umgebende Hof wäre im Sommer ein Garten mit halb verwilderten Bäumen und einem gewellten, wiesenartigen Rasen gewesen, also kein solcher wie unsere Nekropolis. Rosen hätten in Schalen auf einem Mosaikpflaster geblüht. Tierstatuen standen dort mit dem Rücken zu den vier Mauern des Hofes, die Augen wachsam auf die schräge Uhr gerichtet: geduckte Barylambden; Höhlenbären, die Könige ihrer Art; Glyptodonten; Smilodonten mit säbelartigen Fängen. Alle waren sie nun von Schnee bedeckt. Ich suchte nach Spuren von Triskele, aber er war nicht hiergewesen.
In den Mauern des Hofes befanden sich hohe, schmale Fenster, in denen ich weder Licht noch Leben sah. Die spitzen Türme der Zitadelle ragten ringsum empor, was mir verriet, daß ich sie nicht verlassen hatte – vielmehr schien ich mich nahe ihrem Kern aufzuhalten, wo ich noch nie gewesen war. Vor Kälte zitternd, schritt ich zur nächsten Tür und klopfte. Ich rechnete mir aus, daß ich wohl ewig durch die Stollen wandern könnte, ohne je einen anderen Ausgang zu finden, und war entschlossen, notfalls lieber eines der Fenster einzuschlagen als dorthin zurückzukehren. Drinnen rührte sich nichts, obschon ich mit der Faust immer wieder gegen das Türblatt hämmerte.
Es ist wirklich unmöglich, das Gefühl, daß man sich beobachtet vorkommt, zu beschreiben. Ich habe schon gehört, wie man es als Kribbeln im Nacken bezeichnet hat, oder daß man sich eines in der Dunkelheit schwebenden Augenpaares bewußt sei, aber es ist nichts dergleichen – zumindest nicht für mich. Es ähnelt einer Verlegenheit ohne Anlaß, gepaart mit dem Gefühl, man dürfe sich nicht umdrehen, weil man sich dadurch lächerlich mache, wie einem eine unbegründete Intuition eingibt. Schließlich tut man's natürlich doch. Ich drehte mich um in der Ahnung, daß mir jemand durch das Loch am Sockel der Uhr gefolgt war.
Statt dessen sah ich eine pelzvermummte junge Dame vor einer der Türen auf der gegenüberliegenden Hofseite. Ich winkte ihr und ging (schnell, da mir so kalt war) auf sie zu. Sie kam mir entgegen, so daß wir uns jenseits der Uhr begegneten. Sie fragte, wer ich sei und was ich hier tue, und ich antwortete ihr, so gut ich konnte. Ihr von der Pelzkapuze umrahmtes Gesicht war wohlgestaltet, die Kapuze selbst, der Mantel und die pelzverbrämten Stiefel wirkten weich und teuer, was mich befangen machte, als ich zu ihr sprach, weil ich damit auf die eigenen Flicken an Hemd und Hose und die schmutzigen Füße aufmerksam wurde.
Ihr Name war Valeria. »Wir hier haben deinen Hund nicht«, äußerte sie sich. »Du darfst gern nachsehen, wenn du mir nicht glaubst.«
»Das habe ich nicht angenommen. Ich
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