Der Schatten des Folterers
dem der Text gedruckt war. Der Geruch in meiner Nase war der von altem Leder, dem noch der Duft von Birkenöl anhaftete. Erst als ich die Bücher selbst sah, verstand ich allmählich, welcher Pflege sie bedurften.«
Seine Hand auf meiner Schulter drückte fester. »Wir haben hier Bücher, die gebunden sind in Häuten von Schnabeltieren, Riesenkraken und anderen Tieren, die schon so lange ausgestorben sind, daß die Gelehrten, die sich damit befassen, zum Großteil der Meinung sind, Reste dieser Gattungen überdauerten nur in Fossilienform. Wir haben Bücher, die in fremden Metallegierungen gebunden sind, und Bücher, deren Einbände dick mit Edelsteinen besetzt sind. Wir haben Bücher mit Einbanddecken aus wohlriechenden Hölzern, die über den unvorstellbaren Schlund zwischen den Schöpfungen gekommen sind – Bücher, die doppelt kostbar sind, weil keiner auf Urth sie lesen kann.
Wir haben Bücher, deren Papier aus gefilzten Pflanzen besteht, denen seltsame Alkaloide entweichen, so daß den Leser beim Durchblättern mit einemmal bizarre Phantasien und Trugbilder überfallen. Bücher, deren Seiten überhaupt kein Papier, sondern feine Tafeln aus weißer Jade, Elfenbein und Perlmutt sind; auch Bücher, deren Seiten die getrockneten Blätter unbekannter Pflanzen sind. Bücher haben wir auch, die gar keine Bücher für das Auge sind: Rollen und Tafeln und Aufzeichnungen auf hundert verschiedenen Stoffen. Wir verwahren einen Kristallwürfel – auch wenn ich dir nicht mehr sagen kann, wo –, der nicht größer als dein Handballen ist, der aber mehr Bücher als die Bibliothek selbst enthält. Obschon eine Dirne ihn sich zur Zierde ans Ohr hängen würde, gäbe es nicht genügend Bände auf der Welt, um ein Gegengewicht zu bilden. All dies brachte ich in Erfahrung, und die Erhaltung machte ich mir zur Lebensaufgabe.
Sieben Jahre war ich damit beschäftigt; als dann die dringenden und äußeren Probleme der Konservierung beseitigt waren und die erste allgemeine Bestandsaufnahme der Bibliothek seit ihrer Gründung in Angriff genommen werden sollte, erlosch allmählich mein Augenlicht. Der, welcher alle Bücher in meine Obhut gegeben hatte, machte mich blind, um mir zu zeigen, in wessen Obhut der Hüter steht.«
»Wenn Ihr den Brief, den ich brachte, nicht lesen könnt, Sieur«, sagte ich, »will ich ihn Euch gern vorlesen.«
»Du hast recht«, murmelte Meister Ultan. »Hab' ich vergessen. Cyby wird ihn lesen – er liest gut. Hier, Cyby.«
Ich hielt ihm den Leuchter, und Cyby entfaltete das knisternde Pergament, erhob es wie eine Proklamation und begann zu lesen, während wir drei im kleinen Lichtkegel der Kerzen standen, von Büchern umringt. »›Von Meister Gurloes vom Orden der Wahrheitssucher und Büßer ...‹«
»Was«, unterbrach Meister Ultan. »Bist du ein Folterer, junger Mann?«
Ich bejahte, woraufhin eine so lange Pause entstand, daß Cyby den Brief zum zweiten Mal zu lesen begann: »›Von Meister Gurloes vom Orden der Wahrheitssucher und Büßer .. .‹«
»Warte«, sagte Ultan. Cyby brach wieder ab; ich blieb regungslos stehen, das Licht haltend, und spürte, wie das Blut in meine Wangen schoß. Schließlich sprach Meister Ultan wieder, aber in einem nüchternen Tonfall, als teilte er mir mit, Cyby lese gut. »Ich kann mich kaum mehr an meine Aufnahme in unsere Zunft erinnern. Du bist, vermute ich, vertraut mit der Art, wie wir unsere Reihen ergänzen?«
Ich verneinte.
»In jeder Bibliothek gibt es aufgrund einer alten Verordnung ein Zimmer für Kinder. Darin befinden sich bunte Bilderbücher, wie Kinder sie mögen, und ein paar leichte Geschichten über wunderliche und abenteuerliche Erlebnisse. Viele Kinder besuchen diese Zimmer, und solange sie hinter deren Türen bleiben, interessieren sie uns nicht.«
Er zögerte, und obschon ich in seiner Miene nichts erkennen konnte, bekam ich den Eindruck, er befürchte, mit dem, was er sagen wollte, Cyby wehzutun.
»Hin und wieder fällt einem Bibliothekar jedoch ein einsames Kind auf, das – noch in zartem Alter – aus dem Kinderzimmer spaziert ... und es schließlich ganz meidet. Ein solches Kind entdeckt irgendwann auf einem niedrigen, aber abseits stehende Regal das Goldene Buch. Du hast dieses Buch nie gesehen und wirst es auch nie, weil du aus dem Alter bist, in dem man es kennenlernt.«
»Es muß wunderschön sein«, bemerkte ich.
»Das ist es. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, so ist der Einband aus schwarzem Steifleinen und der
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