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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Geheimnisse von solch hohem Alter, daß die Zeit ihre Bedeutung verschlüsselt hat.«
    »Nun«, erkundigte sich Meister Ultan, »hatte ich recht oder nicht?«
    Ich schlug das Buch an irgendeiner Stelle auf und las: ... wodurch sich mit solchem Geschick ein Bild eingraben läßt, daß es, sollte es zerstört werden, anhand eines kleinen Teils, und zwar eines beliebigen Teils, ganz wiederhergestellt werden kann.
    Wohl lag es am Wort eingraben, daß ich unwillkürlich an die Ereignisse jener Nacht, als ich meinen Chrysos bekam, denken mußte.
    »Sieur«, antwortete ich, »Ihr seid phänomenal.«
    »Nein, aber ich irre selten.«
    »Ihr vor allen anderen werdet mir verzeihen, wenn ich gestehe, kurz bei diesem Buch verweilt und ein paar Zeilen gelesen zu haben. Meister, sicher wißt Ihr von den Leichenfressern. Ich habe gehört, daß sie das Leben ihrer Opfer wiedererleben können, indem sie das Fleisch der Toten zusammen mit einem bestimmten Pharmakon verzehren.«
    »Es empfiehlt sich nicht, zuviel über solche Praktiken zu wissen«, brummte der Archivar, »obschon der Gedanke, mit einem Historiker wie Loman oder Hermas den Verstand zu teilen ...« In den Jahren seiner Blindheit mußte er vergessen haben, daß unser Gesicht unsere tiefsten Empfindungen verräterisch bloßstellen kann. Im Kerzenschein sah ich, wie sich seine Miene in quälender Sehnsucht derart verzerrte, daß ich mich aus Anstand abwandte; seine Stimme blieb so kühl wie eine feierliche Glocke. »Aber davon ausgehend, was ich einst gelesen habe, hast du recht, obwohl mir jetzt das Buch, das du so hoch achtest, nicht einfällt.«
    »Meister«, versetzte ich, »bei meinem Wort, so etwas würde ich Euch nicht nachsagen wollen. Aber was meint Ihr – wenn zwei sich zusammentun und ein Grab schänden und einer als Beute die rechte, der andere die linke Hand bekommt – hat derjenige, der die rechte aß, nur das halbe Leben des Toten und der andere den Rest? Und falls ja, was wäre, wenn ein dritter hinzukäme und einen Fuß verschlänge?«
    »Schade, daß du ein Folterer bist«, meinte Ultan. »Du hättest ein Philosoph werden können. Nein, wie ich diese schlimme Sache verstehe, hat jeder das ganze Leben.«
    »Dann steckt das ganze Leben eines Menschen sowohl in seiner rechten als auch in seiner linken Hand. Auch in jedem Finger?«
    »Ich glaube, daß jeder Teilnehmer mehr als einen Mundvoll verzehren muß, damit die Praktik wirksam ist. Vermutlich aber hast du zumindest theoretisch in dem, was du sagst, recht. Das ganze Leben steckt in jedem Finger.«
    Wir gingen inzwischen wieder in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren. Da der Gang zum Nebeneinandergehen zu schmal war, trug ich den Armleuchter vor ihm her, so daß ein fremder Beobachter sicherlich gedacht hätte, ich leuchtete ihm den Weg. »Aber Meister«, wandte ich ein, »wie kann das sein? Nach dem gleichen Argument muß das Leben in jedem Fingergelenk sitzen, und das ist gewiß ausgeschlossen.«
    »Wie groß ist das Leben eines Menschen?« fragte Ultan.
    »Das kann ich nicht sagen, doch ist es nicht größer als das?«
    »Du siehst es vom Beginn und erwartest viel. Ich, der ich mich aufs Ende besinne, weiß, wie wenig davon gewesen ist. Das ist wohl der Grund, warum diese Entarteten, die Leichen fressen, mehr suchen. Laß mich dich fragen – ist dir bewußt, daß ein Sohn seinem Vater oft auffallend ähnlich sieht?«
    »Ich habe davon gehört, ja. Und ich glaube es auch«, antwortete ich. Unwillkürlich mußte ich wie so oft an die Eltern denken, die ich nie kennen würde.
    »Da jeder Sohn seinem Vater gleichen kann, ist es also möglich – richtig? –, daß ein Gesicht durch viele Generationen fortbesteht. Das heißt, wenn der Sohn seinem Vater gleicht und dessen Sohn ihm und der Sohn dieses Sohnes ihm, dann gleicht der vierte in der Folge, der Großenkel, seinem Urgroßvater.«
    »Ja«, bestätigte ich.
    »Dennoch war der Samen von allen in einer Drachme klebriger Flüssigkeit enthalten. Wenn sie nicht daraus hervorgingen, woraus gingen sie dann hervor?«
    Ich konnte darauf keine Antwort geben und ging verwirrt weiter, bis wir zur Tür gelangten, durch die ich dieses tiefste Geschoß der großen Bibliothek betreten hatte. Hier trafen wir auf Cyby, der die anderen in Meister Gurloes' Brief erwähnten Bücher trug. Ich nahm sie ihm ab, verabschiedete mich von Meister Ultan und verließ sehr erleichtert die drückende Atmosphäre des Buchmagazins. In die oberen Etagen dieser Bücherei bin

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