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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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entdeckte ich Spuren von Ratten, die sich zwischen den Büchern eine Kinderstube eingerichtet hatten, indem sie sie zu hübschen zwei- und dreistöckigen Häuschen verrückten und als plumpe Zeichen ihrer Sprache Dung auf die Deckel schmierten.
    Aber überall wimmelte es von Büchern: in Kalbs- und Saffianleder, Leinen, Papier und hundert anderen Stoffen gebunden, die ich nicht kannte; manche schimmerten in Gold, viele trugen schwarze Lettern und ein paar wenige Papierschildchen, die so alt und vergilbt waren, daß sie braun wie dürres Laub wirkten.
    »›Der Tinte Spur kein Ende nimmt‹«, erklärte mir Meister Ultan. »So oder ähnlich sprach ein weiser Mann. Er lebte vor langer Zeit – was würde er sagen, sähe er uns jetzt?«
    »Ich habe die Buchrücken betrachtet«, antwortete ich und kam mir ziemlich albern vor.
    »Welch ein Glück! Doch ich bin nicht betrübt. Ich kann zwar nicht mehr sehen, aber ich kann mich daran erinnern, wie ich es genossen habe. Das war wohl kurz nach meiner Beförderung zum Bibliotheksmeister. Ich war um die Fünfzig. Weißt du, ich bin viele, viele Jahre Lehrling gewesen.«
    »Tatsächlich, Sieur?«
    »So ist's gewesen. Mein Meister war Gerbold, und jahrzehntelang hatte es den Anschein, als ob er nie sterben würde. Jahr um Jahr mühte ich mich ab, und in der ganzen Zeit las ich – vermutlich haben nur wenige so viel gelesen. Ich begann, wie die meisten jungen Leute, mit den Büchern, die mir zusagten. Aber wie sich herausstellte, schmälerte das mein Vergnügen mit der Zeit, denn die meisten Stunden verwandte ich darauf, solche Bücher aufzustöbern. Ich legte mir dann einen Studierplan zurecht und ging nacheinander obskuren Wissenschaften von den ersten Überlieferungen bis in die Gegenwart nach. Als ich zuletzt sogar das erschöpfend behandelt hatte, machte ich mich an den großen Ebenholzschrank in der Mitte des Zimmers, das wir von der Bibliothek seit dreihundert Jahren zur Verfügung halten, damit es für die Rückkehr des Autarchen Sulpicius bereit steht (und das folglich nie jemand betritt); fünfzehn Jahre lang arbeitete ich mich dort hindurch, wobei ich oft zwei Bücher am Tag auslas.«
    Hinter uns murmelte Cyby: »Großartig, Sieur.« Ich nahm an, daß er die Geschichte schon oft gehört hatte.
    »Dann kam das Unerwartete über mich. Meister Gerbold starb. Dreißig Jahre früher wäre ich durch meine Vorliebe zum Beruf, durch meine Ausbildung, Erfahrung, Jugend und durch meine familiären Beziehungen und meinen Ehrgeiz der ideale Nachfolger gewesen. Als es aber tatsächlich soweit war, hätte keiner ungeeigneter sein können. Ich hatte so lange gewartet, daß mir nur mehr das Warten ein Begriff war, und mein Verstand erstickte unter der angehäuften Last unnützen Wissens. Aber ich zwang mich zur Pflicht und verbrachte mehr Zeit, als du mir jetzt glauben würdest, damit, mir die Pläne und Grundsätze, die ich vor so vielen Jahren für meine etwaige Nachfolge aufgestellt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen.«
    Er fiel in Schweigen, und ich wußte, daß er Gedanken nachhing, die noch größer und finsterer als seine gewaltige Bibliothek waren. »Aber die alte Gewohnheit des Lesens saß noch hartnäckig in mir. Tage und ganze Wochen verlor ich mit Büchern, während ich mich den Geschäften unserer Einrichtung, die von mir geführt sein wollte, hätte widmen sollen. So plötzlich wie ein Glockenschlag packte mich dann eine neue Leidenschaft anstelle der alten. Du wirst bereits erraten haben was für eine.«
    Ich verneinte.
    »Ich las – so glaubte ich zumindest – oft auf einer Bank unter einem Bogenfenster im 49. Stock, das zum ... Ich hab's vergessen, Cyby. Wohin geht es?«
    »Zum Garten der Polsterer, Herr.«
    »Ja, jetzt fällt's mir wieder ein – zu diesem kleinen grünbraunen Platz. Sie trocknen dort, glaube ich, Rosmarin als Kissenfüllung. Ich saß dort, wie gesagt, und zwar schon mehrere Wochen lang, als es mir auffiel, daß ich gar nicht mehr las. Eine ganze Weile konnte ich kaum beschreiben, was ich getan hatte. Mir kamen dann nur gewisse Gerüche und Strukturen und Farben in den Sinn, die offenbar nichts mit dem Thema des Buches in meiner Hand zu tun hatten. Schließlich erkannte ich, daß ich es, anstatt darin zu lesen, als stoffliches Ding betrachtet hatte. Das Rot, das mit einfiel, entstammte dem am Kaptelband angenähten Lesezeichen, womit ich meine Stelle kennzeichnete. Die Struktur, die noch an meinen Fingern kitzelte, rührte vom Papier her, auf

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