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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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ich oft zurückgekehrt; nie aber in diese Kellergruft – Gott sei Dank.
    Einer der drei Bände, die Cyby gebracht hatte, war so groß wie die Fläche eines Tischchens, nämlich eine Elle breit und knapp zwei Ellen lang; aus dem in seinen saffianledernen Deckel geprägten Wappen schloß ich, daß es sich um die Geschichte einer alten Adelsfamilie handelte. Die anderen waren viel kleiner. Ein grünes, kaum größer als meine Hand und nicht dicker als mein Zeigefinger, enthielt offenbar eine Gebetssammlung mit bunten, leuchtenden Bildern von asketischen Pantocratoren und Hypostasen mit schwarzem Glorienschein und juwelenartigen Gewändern. Eine Weile innehaltend, betrachtete ich sie mir und ließ mich forttragen zu einem kleinen, vergessenen Garten im Schein der Wintersonne mit einem trockenen Springbrunnen.
    Bevor ich einen der anderen Bände auch nur geöffnet hatte, spürte ich jenen Zeitdruck, der vielleicht das sicherste Anzeichen dafür ist, daß wir die Kindheit hinter uns gelassen haben. Ich hatte bereits mindestens zwei Wachen für einen einzigen Botengang gebraucht, und bald würde die Abenddämmerung hereinbrechen. Also sammelte ich die Bücher auf und eilte weiter, um (was ich zwar noch nicht wußte) in der Chatelaine Thecla meinem Schicksal und schließlich mir selbst zu begegnen.

Die Verräterin
    Es war schon Zeit, den diensthabenden Gesellen in der Oubliette das Essen zu bringen. Drotte hatte die Aufsicht über den ersten Stock, und ihm brachte ich das Mahl zuletzt, weil ich ihn sprechen wollte, ehe ich wieder nach oben stieg. Offengestanden gingen mir immer noch schwindelerregende Gedanken von meinem Besuch beim Archivar durch den Kopf, worüber ich mit Drotte reden wollte.
    Er war nirgends zu sehen. Ich stellte sein Tablett neben den vier Büchern auf seinen Tisch und rief nach ihm. Sogleich antwortete er aus einer nahegelegenen Zelle. Ich lief dorthin und tat einen Blick durch das Gitterfenster, das in Augenhöhe in die Tür eingelassen war; die Klientin, eine ausgemergelte Frau mittleren Alters, lag auf ihrer Pritsche ausgestreckt. Drotte stand über sie gebeugt, und auf dem Fußboden sammelte sich Blut.
    Er war so beschäftigt, daß er sich nicht von ihr abwandte. »Bist du's, Severian?«
    »Ja. Ich bringe dein Abendessen und Bücher für die Chatelaine Thecla. Kann ich irgend etwas helfen?«
    »Sie wird's überstehen. Hat den Verband abgerissen, um zu verbluten, aber ich hab's rechtzeitig bemerkt. Laß mein Tablett auf meinem Tisch, ja? Und du könntest den andern noch ihr Essen durchschieben, wenn du 'nen Augenblick Zeit hast.«
    Ich zögerte. Lehrlinge durften mit den in die Obhut der Gilde Befohlenen nichts zu tun haben.
    »Mach schon! Du brauchst nur die Tabletts durch die Schlitze reichen.«
    »Ich habe die Bücher gebracht.«
    Einen Augenblick noch sah ich ihm zu, wie er sich über die aschgraue Frau auf der Pritsche beugte; dann wandte ich mich den unausgeteilten Tabletts zu und tat, worum er mich gebeten hatte. Die meisten Klienten waren noch bei Kräften, um aufzustehen und das durchgereichte Essen entgegenzunehmen. Einige waren's nicht, so daß ich das Tablett draußen vor die Tür stellte, damit Drotte es nachher hineinbrächte. Unter den Insassen waren mehrere aristokratisch wirkende Damen, aber keine davon schien mir die Chatelaine Thecla zu sein, eine neu eingetroffene Beglückte, die – zumindest bis auf weiteres mit Achtung zu behandeln war.
    Wie ich mir hätte denken können, befand sie sich in der letzten Zelle. Zum üblichen Bett, Stuhl und Tischchen war ein Teppich gekommen; anstelle der gewohnten Lumpen trug sie ein weißes Gewand mit weiten Ärmeln. Die Ränder dieser Ärmel und der Saum des Kleides waren nun arg schmutzig, trotzdem strahlte das Gewand noch eine Eleganz aus, die mir genauso fremd wie der Zelle selbst war. Zuerst saß sie über einer Stickarbeit im Schein einer Kerze, den ein Silberspiegel reflektierte; dann spürte sie wohl, daß ich sie beobachtete. Mit Genugtuung könnte ich nun sagen, daß in ihrem Gesicht keine Furcht lag, doch es wäre nicht wahr. Es lag blankes, wenn auch, da beherrscht, fast unkenntliches Entsetzen darin.
    »Keine Sorge,« sagte ich. »Ich bringe Euch Euer Essen.«
    Sie nickte dankbar, erhob sich dann und trat an die Tür. Sie war noch größer, als ich erwartet hatte – fast zu groß, um sich in der Zelle ganz aufrichten zu können. Ihr zwar dreieckiges und nicht herzförmiges Gesicht erinnerte mich an die Frau, die mit Vodalus in

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