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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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obskurere Gefühl, das einem die Brust schwellt, wenn aus einem ursprünglichen Wettbewerb eine Darbietung geworden ist. »Heut' abend sehr wenige. Wegen des Schnees. Ich bin in einem Schlitten mit Gracia gekommen.«
    Ich nickte. Mir war ziemlich klar, daß sie nur aus einer der krummen Gassen in der Nähe des Hauses, in dem wir heute weilten, gekommen war; höchstwahrscheinlich zu Fuß, mit einem Tuch über dem Haar und alten Schuhen, in welche die Kälte kroch. Dennoch hatten ihre Äußerungen mehr Bedeutung als die Wirklichkeit: ich konnte mir vorstellen, wie die schwitzenden Rosse durch den fallenden Schnee galoppierten, schneller als jede Maschine; wie der Wind pfiff, wie die junge, hübsche Dame sich in ihrem Zobel und Luchs erschöpft in die roten Samtpolster schmiegte.
    »Kommst du nicht?«
    Sie hatte schon, beinahe außer Sicht, den Treppenabsatz erreicht. Jemand sprach mit ihr, sie »liebste Schwester« nennend, und nachdem ich einige Stufen höhergestiegen war, erblickte ich eine Frau, die der Begleiterin Vodalus' sehr ähnelte – ihr mit dem herzförmigen Gesicht und der schwarzen Kapuze. Diese Frau schenkte mir keine Beachtung und eilte, sobald ich ihr Platz gemacht hatte, die Treppe hinunter.
    »Nun siehst du, was du bekommen hättest, wenn du nur auf die nächste gewartet hättest.« Ein Lächeln, das ich anderswo zu deuten gelernt hatte, lauerte im Mundwinkel meiner Metze.
    »Ich hätte trotzdem dich gewählt.«
    »Das ist ja amüsant – komm nun, komm mit, du willst doch nicht ewig in diesem zugigen Gang bleiben! Du hast keine Miene verzogen, aber deine Augen hast du gerollt wie ein Kalb. Sie ist hübsch, nicht wahr?«
    Die Dame, die wie Thecla aussah, öffnete eine Tür, und wir gelangten in ein kleines Schlafzimmer mit einem gewaltigen Bett. Ein erkaltetes Rauchfaß hing an einer gold-silbernen Kette von der Decke; ein Kerzenhalter mit einem rosaroten Schirm stand in einer Ecke. Daneben gab es ein Spiegeltischchen und einen schmalen Kleiderschrank und kaum Platz zum Rühren.
    »Willst du mich ausziehen?«
    Ich nickte und streckte die Hände nach ihr aus.
    »Dann warne ich dich, auf meine Garderobe zu achten.«
    Sie wandte sich von mir ab. »Das ist am Rücken verschlossen. Beginne oben am Nacken. Wenn du in deiner Erregung etwas zerreißt, mußt du's bezahlen – sag also nicht, du hast nichts gewußt.«
    Meine Finger fanden ein Häkchen, das ich öffnete. »Ich möchte meinen, daß die Chatelaine Thecla viele Kleider besitzt.«
    »Ja. Aber glaubst du, ich möchte in einem zerrissenen Gewand ins Haus Absolut zurückkehren?«
    »Sie muß aber mehr hierhaben.«
    »Ein paar, aber ich kann nicht viel hierlassen. Immer wieder verschwinden Sachen, wenn ich fort bin.«
    Der Stoff zwischen meinen Fingern, der im blauen Zimmer mit seinen Kolonnaden so glänzend und kostbar gewirkt hatte, war dünn und billig. »Wohl kein Atlas«, sagte ich beim Lösen des nächsten Hakens. »Kein Zobel, keine Diamanten.«
    »Natürlich nicht.«
    Ich trat einen Schritt zurück (wodurch ich mit dem Rücken fast an der Tür zu stehen kam). Sie hatte nichts von Thecla an sich. Alles war eine zufällige Ähnlichkeit in der Gestik und in der Kleidung gewesen. Ich blickte in diesem kalten Zimmerchen auf den Nacken und die bloßen Schultern einer armen jungen Frau, deren Eltern ihren Anteil an Roches kärglichem Silber vielleicht dankbar hinnahmen, aber so taten, als wüßten sie nicht, wohin ihre Tochter des Nachts ging.
    »Du bist nicht die Chatelaine Thecla«, sagte ich zu ihr. »Was soll ich hier mit dir?«
    Sicherlich lag mehr Gewicht in meiner Stimme, als ich beabsichtigt hatte. Sie kehrte sich mir zu, wobei der dünne Stoff ihres Gewandes von ihren Brüsten rutschte. Angst huschte wie von einem Spiegel geworfenes Licht über ihr Gesicht; sie mußte schon einmal in einer solchen Situation gewesen sein, und es mußte schlimm für sie ausgegangen sein. »Ich bin Thecla«, versicherte sie. »Wenn du willst, daß ich sie bin.«
    Ich hob die Hand, so daß sie rasch hinzufügte: »Es sind Leute da zu meinem Schutz. Ich brauche nur zu schreien. Du kannst mich einmal schlagen, aber du wirst mich kein zweites Mal schlagen.«
    »Nein«, versetzte ich.
    »Doch, sind welche da. Drei Männer.«
    »Es ist keiner da. Das ganze Stockwerk ist leer und kalt – meinst du, mir ist nicht aufgefallen, wie still es hier ist? Roche blieb mit seinem Mädchen unten und bekam dort wohl ein besseres Zimmer, weil er bezahlte. Die Frau, die uns über

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