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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Vodalus. Man sagt, sie sei seine Buhle, was ich für sehr wahrscheinlich halte.«
    Ich mußte an die hübsche Frau über der Treppe im Azurnen Haus denken. »Ich glaube, Eure Halbschwester einmal gesehen zu haben. Es war in der Nekropolis. Bei ihr war ein stattlicher Mann, ein Beglückter mit einem Schwert. Er sagte, er sei Vodalus. Die Dame hatte ein herzförmiges Gesicht und eine Stimme, die mich an Tauben erinnerte. War sie das?«
    »Wohl ja. Sie soll ihn verraten, um mich zu retten, aber das tut sie bestimmt nicht. Aber warum sollte man mich, hat man das erst festgestellt, nicht freilassen?«
    Ich sprach von etwas anderem, bis sie lachend meinte: »Du bist so intellektuell, Severian. Wenn du Geselle wirst, bist du der gescheiteste Folterer der Geschichte – ein furchtbarer Gedanke.«
    »Ich hatte den Eindruck, Euch gefielen solche Gespräche, Chatelaine.«
    »Nur jetzt, weil ich nicht hinaus kann. Auch wenn's dich vielleicht bestürzt, als ich frei war, widmete ich der Metaphysik wenig Zeit. Das Wissen, das du bewunderst, habe ich als Mädchen unter dem drohenden Stock meines Lehrers erworben.«
    »Wir brauchen nicht über solche Dinge zu sprechen, Chatelaine, wenn Ihr nicht wollt.«
    Sie stand auf und drückte das Gesicht mitten in den Strauß, den ich ihr gepflückt hatte. »Blumen sind eine bessere Theologie als Bücher, Severian. Ist es schön in der Nekropolis, woher du sie hast? Du bringst mir doch keine Blumen von Gräbern? Brichst Blumen, die jemand hingestellt hat?«
    »Nein. Sie sind vor langer Zeit gepflanzt worden. Wachsen jedes Jahr.«
    Am Türschlitz ertönte Drottes Stimme: »Zeit zum Gehen.« Ich erhob mich.
    »Meinst du, du siehst sie wieder? Die Chatelaine Thea, meine Schwester?«
    »Ich glaube nicht, Chatelaine.«
    »Wenn ja, Severian, wirst du ihr dann von mir erzählen? Vielleicht konnten sie mit ihr nicht in Verbindung kommen. Es wäre kein Treuebruch – du würdest im Sinne des Autarchen handeln.«
    »Das werde ich, Chatelaine.« Ich trat durch die Tür.
    »Sie wird Vodalus nicht verraten, das weiß ich, aber vielleicht käme ein Kompromiß zustande.«
    Drotte schloß die Tür und drehte den Schlüssel herum. Es war mir nicht entgangen, daß Thecla nicht gefragt hatte, wie denn ihre Schwester und Vodalus in unsere alte – und von Leuten wie ihresgleichen vergessene – Nekropolis gekommen seien. Der Gang mit seinen vielen Metalltüren und schwitzenden Wänden wirkte düster nach der hellen Zelle.
    Drotte begann von einer Expedition zu berichten, die Roche und er zu einer Löwengrube am jenseitigen Ufer des Gyoll gemacht hatten; über seiner Stimme hörte ich das schwache Rufen Theclas: »Erinnere sie an die Zeit, als wir Josephas Puppe nähten.«
    Die Lilien verblühten wie immer, und die dunklen Totenrosen öffneten ihre Knospen. Ich brach sie und trug das schwarzpurpurne, scharlachrot getüpfelte Gebinde zu Thecla. Sie lächelte und rezitierte:
    »Wo die feine, nicht reine Rose steht,
    Da ist's kein Rosenduft, der weht.«
    »Wenn ihr Geruch Euch stört, Chatelaine ...«
    »Ganz und gar nicht, riecht köstlich. Ich habe nur einen Spruch meiner Großmutter zitiert. Die Frau war als Mädchen berüchtigt gewesen, wie sie mir sagte, und als sie starb, riefen alle Kinder diesen Reim. Eigentlich halte ich ihn für viel älter; mit der Zeit ist er verlorengegangen wie die Anfänge von allem Guten und Bösen. Männer, so heißt es, begehren Frauen, Severian. Warum verschmähen sie die Frauen, die sie erhalten?«
    »Das tun wohl nicht alle, Chatelaine.«
    »Jene wunderschöne Rose gab sich hin und erntete dafür soviel Spott, daß ich davon weiß, obschon ihre Träume sich zusammen mit ihrem zarten Fleisch längst zu Staub verwandelten. Komm her und setze dich zu mir!«
    Ich tat das, woraufhin sie mit den Händen unter den ausgefransten Saum meines Hemdes glitt und es mir über den Kopf zog. Ich erhob Einwände, konnte mich aber nicht dagegen wehren.
    »Was schämst du dich, der du keine Brüste hast? Ich habe noch nie so weiße Haut bei so dunklem Haar gesehen ... Findest du meine Haut auch weiß?«
    »Sehr weiß, Chatelaine.«
    »Das tun auch andere, aber neben deiner ist sie braun. Du mußt die Sonne meiden, wenn du Folterer bist, Severian. Sie wird dich schrecklich verbrennen.«
    Ihr Haar, das sie oft lose herabhängen ließ, trug sie heute zu einer dunklen Aureole hochgesteckt. Nie hatte sie ihrer Halbschwester Thea ähnlicher gesehen, und mich überkam so starkes Verlangen nach ihr, daß

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