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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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der Treppe begegnete, ging fort, nachdem sie mit dir gesprochen hatte. Schau!« Ich packte sie an den Hüften und hob sie in die Luft. »Schrei doch! Es wird niemand kommen.« Sie blieb stumm. Ich setzte sie aufs Bett und nahm neben ihr Platz.
    »Du bist erzürnt, weil ich nicht Thecla bin. Aber ich wollte für dich Thecla sein. Ich will's immer noch.« Sie zog den seltsamen Rock von meinen Schultern und ließ ihn zu Boden gleiten. »Du bist sehr stark.«
    »Nein, bin ich nicht.« Ich wußte, daß einige Knaben, die großen Respekt vor mir hatten, bereits stärker waren als ich.
    »Sehr stark. Bist du nicht so stark, um der Wirklichkeit Herr werden zu können, wenn auch nur für eine Weile?«
    »Was meinst du damit?«
    »Schwächlinge glauben, was ihnen aufgezwungen wird. Starke Menschen das, was sie glauben wollen, indem sie das zur Wirklichkeit machen. Was ist der Autarch anderes als ein Mann, der sich für den Autarchen hält und eben dieses anderen durch seine Kraft glauben macht?«
    »Du bist nicht die Chatelaine Thecla«, wiederholte ich.
    »Siehst du denn nicht ein, daß sie's auch nicht ist? Die Chatelaine Thecla, die du wohl noch nicht zu Gesicht bekommen hast ... Nein, ich sehe, ich habe unrecht. Bist du im Haus Absolut gewesen?«
    Ihre zierlichen, warmen Hände drückten nun meine Rechte. Ich schüttelte den Kopf.
    »Manche Kunden behaupten, sie seien gewesen. Ich höre ihnen immer gern zu.«
    »Sind sie? Wirklich?«
    Sie zuckte die Achseln. »Ich wollte sagen, daß die Chatelaine Thecla nicht die Chatelaine Thecla ist. Nicht die Chatelaine Thecla deiner Vorstellung, welche die einzige Chatelaine Thecla ist, an der dir etwas liegt. Auch ich bin sie nicht. Was also unterscheidet uns dann?«
    »Vermutlich nichts.«
    Während ich mich entkleidete, sagte ich: »Dennoch versuchen wir alle, das Wirkliche zu entdecken. Und warum? Vielleicht sind wir alle zum Theozentrum hingezogen. Das sagen auch die Hierophanten, daß das allein wahr sei.«
    Sie küßte meinen Schenkel mit dem Wissen, gewonnen zu haben.
    »Bist du wirklich bestrebt, es zu finden? Wohlgemerkt mußt du die rechte Tracht tragen. Sonst wird man dich den Folterern übergeben. Das möchtest du doch nicht.«
    »Nein«, sagte ich und nahm ihren Kopf zwischen meine Hände, während ihre Lippen mein Glied liebkosten.

Das letzte Jahr
    Ich glaube, es war Meister Gurloes' Wille, daß ich oft in dieses Haus gebracht werden sollte, damit ich mich nicht zu sehr zu Thecla hingezogen fühlte. In Wirklichkeit erlaubte ich Roche, das Geld einzustecken, und ging nie wieder dort hin. Der Schmerz war zu angenehm, das Angenehme zu schmerzlich gewesen, so daß ich befürchtete, mein Wesen bliebe nicht mehr das mir vertraute.
    Außerdem hatte, ehe Roche und ich das Haus verließen, der weißhaarige Mann (der meinen Blick auf sich wußte) aus der Brusttasche seiner Robe etwas gezogen, das ich anfänglich für eine Ikone hielt, bei näherem Hinsehen aber als goldenes Fläschchen in Phallusform erkannte. Er hatte gelächelt, und weil nichts als Freundschaft in seinem Lächeln lag, machte es mir Angst.
    Es verstrichen einige Tage, bevor ich meine Gedanken von Thecla von gewissen Eindrücken befreien konnte, welche zur falschen Thecla gehörten – die mich ja in die anakreontische, kurzweilige Erfüllung zwischen Mann und Frau eingeführt hatte. Womöglich hatte das eine Meister Gurloes' Absicht entgegengesetzte Wirkung, wovon ich aber nicht überzeugt war. Ich war wohl nie weniger geneigt, die unglückliche Frau zu lieben, als damals, wo ich diese jüngsten Eindrücke, sie freizügig genossen zu haben, mit mir herumtrug; wie ich immer klarer erkannte, fühlte ich mich wegen der dahintersteckenden Unwahrheit veranlaßt, das Geschehene zu bereuen, und hingezogen zu der Welt alten Wissens und alter Privilegien, welche sie versinnbildlichte.
    Die Bücher, die ich ihr gebracht hatte, wurden meine Universität, sie mein Orakel. Ich bin kein gebildeter Mann – von Meister Palaemon lernte ich nicht viel mehr als das Lesen, Schreiben und Rechnen, abgesehen von den wenigen Dingen über die Naturgesetze und das für unser Mysterium Erforderliche. Wenn gelehrte Männer mich zuweilen, wenn nicht für ihresgleichen, so doch für einen, in dessen Gesellschaft man sich nicht zu schämen brauchte, gehalten haben, so ist das einzig Thecla zu verdanken: der Thecla meiner Erinnerung, der Thecla, die in mir lebt, und den vier Büchern.
    Was wir gemeinsam lasen und besprachen, will ich nicht

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