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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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wiedergeben; wollte ich nur ein Bruchteil davon berichten, verginge darob diese kurze Nacht. Den ganzen Winter lang, während der Alte Hof im Weiß des Schnees lag, stieg ich aus der Oubliette hoch wie aus dem Schlaf und erschrak, die von meinen Füßen zurückgelassenen Spuren und meinen Schatten im Schnee zu sehen. Thecla war in diesem Winter traurig, dennoch fand sie Gefallen daran, mit mir über die Geheimnisse der Vorzeit, die von höherer Seite aufgestellten Mutmaßungen und die Wappen und Lebensgeschichten von seit Jahrtausenden toten Helden zu sprechen.
    Der Frühling erwachte, und mit ihm die purpurrot-gestreiften, weißgetüpfelten Lilien der Nekropolis. Ich brachte sie ihr mit, und sie sagte, mein Bart sei gleichermaßen gesprossen und meine Wangen sollten bläulicher sein als die eines gemeinen Mannes, wofür sie sich tags darauf mit den Worten entschuldigte, das seien sie bereits. Das warme Wetter und (wie ich glaube) die mitgebrachten Blumen weckten ihre Lebensgeister. Als wir den Insignien alter Häuser nachspürten, redete sie über Freunde ihres Standes und die Ehen, die guten oder schlechten, die sie eingegangen waren; daß soundso eine ihre Zukunft für eine verfallene Festung eingetauscht habe, weil sie diese in einem Traum gesehen; wie eine andere, mit der sie als Kind gemeinsam mit Puppen gespielt habe, nun Herrin über soundsoviel tausend Meilen Land sei. »Und es muß irgendwann einen neuen Autarchen und vielleicht auch eine Autarchin geben, weißt du, Severian. Es kann lange, wie gehabt, weitergehen. Aber nicht für immer.«
    »Ich weiß wenig über den Hof, Chatelaine.«
    »Je weniger du weißt, desto glücklicher bist du.« Sie verstummte, wobei sie mit ihren weißen Zähnen an der feingeschwungenen Unterlippe knabberte. »Als meine Mutter in den Wehen lag, ließ sie sich vom Gesinde zum Vatis-Brunnen tragen, der das Kommende enthüllen kann. Die Weissagung lautete, daß ich einen Thron besteigen werde. Thea hat mich stets darum beneidet. Doch der Autarch ...«
    »Ja?«
    »Es wäre besser, ich würde nicht zuviel sagen. Der Autarch ist nicht wie andere Leute. Ganz gleich, was ich zuweilen von mir gebe, auf ganz Urth gibt es nicht seinesgleichen.«
    »Das weiß ich.«
    »Das soll dir genug sein. Schau her!« Sie hob das braune Buch. »Hier steht: ›Die Überlegung von Thalelaeus dem Großen war, daß die Demokratie‹ – das bedeutet Volk – ›von einer höherstehenden Macht regiert sein wollte, und Yrierix der Wilde glaubte, das gemeine Volk würde niemals einen nicht aus seinen Reihen Stammenden als Würdenträger dulden. Nichtsdestoweniger wird jeder Vollkommener Meister genannt.‹«
    Da ich nicht verstand, was sie meinte, schwieg ich.
    »Man kann wirklich nicht sagen, wie der Autarch handelt. Darauf läuft es hinaus. Oder auch Vater Inire. Als ich an den Hof kam, wurde mir als großes Geheimnis gesagt, daß eigentlich Vater Inire die Politik des Gemeinwesens bestimme. Als ich zwei Jahre bei Hofe gelebt hatte, sagte mir ein sehr hochgestellter Mann – ich kann dir nicht einmal seinen Namen verraten –, daß der Autarch herrsche, obschon es jenen im Haus Absolut vielleicht so vorkomme, daß Vater Inire die Macht hätte. Und im letzten Jahr wurde mir von einer Frau, deren Urteil ich höher schätze als das eines jeden Mannes, anvertraut, daß es wirklich keine Rolle spiele, weil beide so unergründlich wie die pelagischen Tiefen seien; wenn der eine Entscheidungen fälle, sobald der Mond zunehme, der andere aber, sobald der Wind nach Osten drehe, könne man sowieso keine Unterschiede aufstellen. Ich hielt das für einen klugen Rat, bis ich erkannte, daß sie nur wiederholte, was ich selbst ihr ein halbes Jahr früher gesagt hatte.« Thecla wurde still und legte sich auf das schmale Bett zurück, wobei ihr dunkles Haar sich auf dem Kissen ausbreitete.
    »Zumindest«, bemerkte ich, »hattet Ihr zurecht Vertrauen zu dieser Frau. Ihre Ansichten entstammten einer zuverlässigen Quelle.«
    Als hätte sie mich nicht gehört, murmelte sie: »Aber es stimmt alles, Severian. Man weiß nicht, was sie tun. Ich könnte schon morgen befreit werden. Das ist gut möglich. Sie müssen inzwischen von meinem Hiersein erfahren haben. Sieh mich nicht so an! Meine Freunde werden mit Vater Inire reden. Vielleicht werden mich einige sogar gegenüber dem Autarchen erwähnen. Du weißt, warum ich verhaftet worden bin, nicht wahr?«
    »Es ist etwas mit Eurer Schwester.«
    »Meine Halbschwester Thea ist bei

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