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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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mir war, als vergösse ich mein Blut auf den Boden, weil ich mit jedem Herzschlag schwächer und benommener wurde.
    »Warum klopfst du an meine Tür?« Ihr Lächeln verriet, daß sie wußte, wie's um mich stand.
    »Ich muß gehen.«
    »Zieh dir vorher besser das Hemd wieder an – du willst bestimmt nicht, daß dein Freund dich so sieht.«
    In dieser Nacht suchte ich, obschon ich wußte, daß es vergeblich wäre, die Nekropolis auf und spazierte mehrere Wachen lang zwischen den stillen Totenhäusern umher. In der nächsten und übernächsten Nacht kehrte ich wieder, aber in der vierten nahm mich Roche in die Stadt mit, wo ich in einer Trinkhöhle jemanden, der's offenbar wissen mußte, sagen hörte, daß Vodalus hoch im Norden sei und sich in frostigen Wäldern und bei den räuberischen Kafilas verstecke.
    Tage verstrichen. Thecla war nun sicher, daß sie nie gefoltert würde, weil sie so lange unversehrt geblieben war, und ließ sich von Drotte Schreib- und Zeichenmaterial bringen, um eine Villa zu entwerfen, die sie am Südufer des Diaturna-Sees, der angeblich entlegensten als auch schönsten Gegend der Republik, erbauen wollte. Ich begleitete Gruppen von Lehrlingen zum Schwimmen, weil ich das für meine Pflicht hielt, obschon ich nicht mehr ohne Furcht in tiefes Wasser tauchen konnte.
    Dann wurde es mit einemmal, wie uns schien, zu kalt fürs Baden; eines Morgens glitzerte der erste Reif auf den Pflastersteinen des Alten Hofs, und wir fanden beim Essen frisches Schweinefleisch auf unseren Tellern vor, ein sicheres Zeichen, daß die Kälte die Hügel unter der Stadt erreicht hatte. Meister Gurloes und Meister Palaemon ließen mich zu sich rufen.
    Meister Gurloes sagte: »Von verschiedenen Stellen haben wir nur Gutes über dich erfahren, Severian, und deine Lehrzeit ist bald vorüber.«
    Beinahe flüsternd, ergänzte Meister Palaemon: »Deine Kindheit liegt hinter, dein Mannsein vor dir.« Es lag Zuneigung in seiner Stimme.
    »Genau«, fuhr Meister Gurloes fort. »Das Fest unserer Patronin naht. Ich nehme an, du hast dich damit beschäftigt?«
    Ich nickte. »Eata wird nach mir Wart.«
    »Und du?«
    Ich verstand nicht, was er meinte; Meister Palaemon, der das bemerkte, fragte sachte: »Was wirst du sein, Severian? Ein Folterer? Du weißt, du kannst die Zunft verlassen, wenn du willst.«
    Ich versicherte ihm – als hätte mich dieser Hinweis etwas entrüstet -, daß das außer Frage stehe. Das war eine Lüge. Mir war bekannt, wie allen Lehrlingen bekannt ist, daß man erst endgültig ein Mitglied der Gilde ist, wenn man als Erwachsener der Bindung zugestimmt hat. Obwohl ich die Zunft liebte, haßte ich sie auch – nicht wegen der Schmerzen, die sie ihren Klienten zufügte, von denen manche unschuldig sein mußten und viele über ein durch ihre Vergehen gerechtfertigtes Maß bestraft wurden; vielmehr weil sie mir untauglich und nutzlos vorkam, diente sie doch nicht nur einer nutzlosen, sondern auch fernen Macht. Ich weiß nicht, wie ich meine Empfindungen besser ausdrücken könnte als zu sagen, ich haßte sie, weil sie mich darben ließ und entwürdigte, und liebte sie, weil sie mein Zuhause war; haßte und liebte sie, weil sie der Inbegriff des Alten, weil sie schwach und weil sie offenbar unzerstörbar war.
    Natürlich äußerte ich nichts davon gegenüber Meister Palaemon, obschon ich's vielleicht getan hätte, wäre Meister Gurloes nicht zugegen gewesen. Dennoch schien es unglaublich, daß mein in Lumpen abgelegtes Treuegelöbnis ernst genommen werden könnte; was es aber wurde.
    »Ob du uns verlassen willst oder nicht«, meinte Meister Palaemon, »steht dir offen. Viele würden sagen, daß nur ein Narr die harten Lehrjahre abdiente, um dann nach Abschluß der Lehre nicht Geselle in seiner Zunft zu werden. Aber du darfst, wenn du willst.«
    »Wohin sollte ich gehen?« Das war, auch wenn ich ihnen das nicht sagen konnte, der wirkliche Grund für mein Bleiben. Ich wußte, daß hinter den Zitadellenmauern – ja, hinter den Mauern unseres Turmes – eine riesengroße Welt lag. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, darin je einen Platz zu finden. Vor die Wahl zwischen Sklaverei und hohler Freiheit gestellt, fügte ich aus Angst, sie würden mir meine Frage beantworten, hinzu: »Ich bin in unserer Zunft großgeworden.«
    »Ja«, sagte Meister Gurloes in seiner nüchternsten Art. »Aber du bist noch kein Folterer. Du trägst kein Schwarz.«
    Meister Palaemons Hand, trocken und runzelig wie die einer Mumie, tastete

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